Ich wüsste schon ganz gern, ob es in Deutschland zwischen 2020/21 und 2023 einen so massiven Rechtsruck gegeben hat, dass sich die Zahl der Menschen mit einem „rechtsextremen Weltbild“ von 1,7 auf 8,3 Prozent vervierfacht hat, wie es die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ausweist. Nun ist Einstellungsforschung auch wissenschaftlich immer Geschmackssache. Die meisten Journalisten, die diese Studie dieser Tage zitieren und ihre Autoren – in der Regel unkritisch – befragen, dürften nicht über das methodische Knowhow verfügen, um die Studienergebnisse einordnen zu können und die nötige Skepsis walten zu lassen.
Es fallen einem aber aus dem Stand Stichworte ein, die in einer Debatte über diesen enormen Anstieg nicht fehlen dürfen: Von der noch unaufgearbeiteten Corona-Zeit über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine bis hin zur Energie- und Migrationspolitik der „Ampel“-Regierung. Vielleicht erinnert sich noch der eine oder andere an einen Artikel wie „Mehr Diktatur wagen“, den der Schriftsteller Thomas Brussig bar jeder Ironie 2021 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte.
Auf die Schnelle habe ich lediglich zwei kritische Beiträge zur aktuellen „Mitte“-Studie gefunden, von Alexander Kissler in der NZZ https://www.nzz.ch/der-andere-blick/der-andere-blick-wie-die-friedrich-ebert-stiftung-ueberall-rechtspopulismus-wittert-ld.1757294 und vom Dresdner Politologen Werner Patzelt auf dem Nachrichtenblog „Nius“ https://www.nius.de/Kommentar/warum-die-spd-ihren-altkanzler-helmut-schmidt-fuer-einen-rechtsextremen-halten-wuerde/6f9aa521-3cca-4157-b08b-2d781fdda0cd.
Kissler moniert zu Recht, dass jemand, der Nicht-Staatsbürger „Ausländer“ nennt – die meisten von uns erlangen diesen Status, sobald sie die Bundesrepublik verlassen -, oder jemand, der vom „woken Wahn“ spricht, alles mögliche ist, aber mit Sicherheit weder „rechts“ noch „rechtsextrem“, wie das die Autoren der Studie behaupten. Bei solchen Qualifizierungen als „rechten Dunst“, wie sie die Studie vornimmt, kann man zwar von einem Abdriften eines geisteswissenschaftlichen Milieus ins Linkstotalitäre sprechen, aber gewiss nicht von einer Rechtswende innerhalb der Mitte dieser Gesellschaft. Das ist beunruhigend genug, weil sich die Extremismen bekanntlich gegenseitig radikalisieren. Patzelt wiederum hat das nötige Methodenwissen, das Fragensetting und die Interpretation der Antworten zu durchleuchten.
Große ethnische Vielfalt innerhalb eines Staatsterritoriums kann bis zu einem gewissen Grad unglaublich förderlich für die Entwicklung einer Gesellschaft sein. Ein Indikator für die Stabilität einer Demokratie ist sie definitiv nicht, denn sonst müssten das Osmanische Reich oder die Sowjetunion – ja der ganze Nahe Osten schon im 19. Jahrhundert – die stabilsten Demokratien der Welt gewesen sein. Entscheidend für eine Demokratie sind aber gerade nicht Herkunft, sexuelle Orientierung und Religionszugehörigkeit, sondern die gemeinsam geteilte Wertschätzung und Akzeptanz von Rechtsstaat und Grundgesetz, weshalb meine Lieblingsdeutschen heute Necla, Seyran, Lale, Güner, Achmad oder Hamed heißen.
Juden sind nicht deshalb der sprichwörtlich gewordene Kanarienvogel im Bergwerk Demokratie, weil sie die gesellschaftliche Buntheit fördern würden, sondern weil sie von Antidemokraten – zu denen die woke-Priester gehören wie das Amen in der Kirche – mit dem Westen identifiziert werden, mit Marktwirtschaft, Pluralismus, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Volkssouveränität etc.pp Will man also wissen, wie es um unsere Demokratie bestellt ist, muss man auf den Antisemitismus schauen und auf die, die ihn verbreiten, seien es Linke, seien es Rechte, seien es Muslime.
Es wäre Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien als finanziell gut gepolsterter Teil der Vierten Gewalt, anstatt den „Kampf gegen Rechts“ zu führen, die zur Leerformel verkommene Phrase endlich zu problematisieren und mit ihm die aktuelle „Mitte“-Studie einschließlich der abenteuerlichen Qualifizierungen all dessen als „rechts“, was im Kern erzdemokratisch und erzliberal ist. Und vor allem wäre es ihre Aufgabe, die Bundesinnenministerin zu kritisieren, wenn sie medienwirksam zu einem vermeintlich rechtsextremen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft eilt, der sich im Nachhinein als Brandstiftung eines aufmerksamkeitssüchtigen Feuerwehrmanns entpuppt.
Andernfalls rennen die öffentlich-rechtlichen Medien wie die Wache in Schilda ihren eigenen Flunkereien hinterher, weil sie – simpler gruppendynamischer Effekt – inzwischen selber daran glauben und sie für die Wahrheit halten.