Vorige Woche diskutierte ich mit Elvira Grözinger, Lea Rosh und der ehemaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters über Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb. Naturgemäß lassen sich in Streitgesprächen auf Podien Argumente nicht in aller Ausführlichkeit darlegen und begründen. Deshalb tue ich das hier.
Dass gerade unter – meist akademisch – gebildeten Menschen, die im Kultur-, Medien-, Wissenschafts- und Politikbetrieb hierzulande nun mal den Ton angeben, ein romantisch verklärtes Bild von angeblich durch Israelis unterdrückten und um ihre Rechte gebrachten arabischen Palästinensern vorherrscht, es unter ihnen aber meist wenig Faktenwissen – erst aus allen Fakten wird Wahrheit – über Gründe, den historischen und aktuellen Verlauf des Nahostkonflikts und über die antisemitische Israel-Boykott-Kampagne BDS gibt, ist kein Zufall. Die Frage ist nicht, ob man über all das besser informiert sein und mehr darüber wissen KANN, sondern, ob man das WILL. Da man das könnte, wenn man wollte, beantwortet sich diese Frage von selbst. Es ist kein Problem, wenig oder nichts über den arabisch-israelischen Konflikt zu wissen, sich dann aber trotzdem lautstark darüber zu äußern und Partei für die arabischen Palästinenser gegen Israel zu ergreifen, ist voreingenommen und leider oft antisemitisch.
Will man heute Antisemitismus bekämpfen, muss man beim israelbezogenen beginnen. Der Rest kommt von allein. Denn Judenfeindschaft ist ein zwar historisch stets flexibilisiertes, inzwischen säkularisiertes und wiederholt angepasstes, aber inhaltlich unverändertes Weltdeutungsmuster, das seit der christlichen und islamischen Traditionsliteratur – seit fast zweitausend Jahren also – beständig um Fantasien von Mord, Geld, Macht, Verschwörung, Menschenverachtung und Verrat kreist. Das ist der Grund dafür, dass mit jeder neuen Form der Judenfeindschaft alle alten, längst überholt und überlebt geglaubten Bilder reaktiviert werden. Die antiisraelischen, antiimperialistischen und antiwestlichen Bildwelten der documenta 15 lieferten einen Beleg dafür: Sei es die christliche Judensau oder die islamische Entmenschlichung von Juden als „Affen und Schweine“, sei es der als Mörder figurierende israelische Soldat, sei es die „Stürmer“-Karikaturen nachempfundene Figur eines orthodoxen Juden mit Reißzähnen und blutunterlaufenen Augen, sei es die manipulative Assoziation Gaza-Guernica mit ihrer Täter-Opfer-Umkehr, die Juden zu Faschisten und arabische Palästinenser zu Juden machte.
Dass dieser judenfeindliche Gedanken- und Gefühlshaushalt von nicht unbeträchtlichen, vor allem maßgeblichen, weil meinungsstarken und Entscheidungspositionen bekleidenden Teilen in der Mitte der deutschen Gesellschaft geteilt wird, war zwar nicht überraschend, aber in dieser Geballtheit und Massierung vor gut einem Jahr niederschmetternd.
Es bestätigte aufs Neue, was Antisemitismusforscher wie Monika Schwarz-Friesel seit Jahrzehnten feststellen und belegen: Judenfeindschaft ist erstens seit Jahrhunderten fest in der Mitte der deutschen Gesellschaft verankert und radikalisiert sich lediglich an ihren Rändern, und kommt zweitens seit den Kirchenvätern des ersten Jahrtausends regelmäßig aus gebildeten Milieus. Von Lehrern, Professoren, Wissenschaftlern, Journalisten, Künstlern, Kulturfunktionären und Politikern. Aus Universitäten und Hochschulen, aus Medienredaktionen, aus Kunst- und Kulturinstitutionen etc.pp
Die documenta 15 war wenig anderes als eine ins Kulturelle gewendete Bandung-Konferenz. 1955 hatten sich in der indonesischen Stadt afrikanische und asiatische Staatschefs und Beobachter getroffen, um eine künftige Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu vereinbaren und ein Zeichen gegen westlichen Imperialismus, westlichen Kolonialismus und westlichen Rassismus zu setzen. Im Grunde fast eine Art Klassentreffen des heute so genannten „globalen Südens“, in den siebziger Jahren hätte man gesagt: der „Dritten Welt“. Das heute altbacken wirkende antiwestliche Vokabular ergab damals durchaus Sinn, weil beispielsweise Indonesien und Indien gerade erst ihre Unabhängigkeit von den Niederlanden und Großbritannien erlangt hatten und es eine Reihe afrikanischer Staaten gab, die diese Unabhängigkeit noch erkämpfen mussten. Star der Konferenz war der ägyptische Staatschef Gamal Abdel Nasser, arabischer Nationalist und Sozialist. Obwohl weder Afrikaner noch Asiate, durfte Haj Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem und NS-Kollaborateur, der in die Shoa verstrickt gewesen ist und von 1941 bis 1945 von Nazi-Deutschland aus Muslime und Araber in aller Welt zum Töten von Juden aufrief, im Beobachterstatus ebenfalls teilnehmen. Als von inzwischen drei militärischen und politischen Niederlagen gezeichnet – von den Briten 1939 niedergeschlagener dreijähriger arabischer Aufstand, Sieg der Anti-Hitler-Koalition über Nazi-Deutschland und das faschistische Italien 1945, israelischer Sieg im Unabhängigkeitskrieg nach dem militärischen Überfall der arabischen Anrainerstaaten 1948/49 -, litt der Mufti zwar an internationalem Ansehensverlust und war außerhalb des „globalen Südens“ nicht mehr vorzeigbar – als strammer Antikommunist schon gar nicht im Ostblock -, konnte aber in Bandung 1955 mühelos die arabischen Palästinenser im Kampf gegen westlichen Imperialismus, westlichen Kolonialismus, westlichen Rassismus und den Staat Israel vertreten, der all dieses Unschöne angeblich repräsentiere. Das stimmte weder damals noch heute, denn die einzigen, die Palästina jemals kolonisierten, waren die Römer, die den Namen „Palästina“ prägten, um die Juden zu demütigen (der kleine jüdische David sollte, so wollten es die Römer, den Kampf gegen den Riesenphilister Goliath verlieren), die christlichen Byzantiner, die Araber, Muslime und schließlich die Osmanen. Die völkerrechtlich abgesegneten Mandate Frankreichs und Großbritanniens nach dem Ersten und bis kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatten keinen Kolonialstatus im strengen Sinn. Israel als Kolonie, erst recht als „europäische“ zu bezeichnen, verbieten allein schon deshalb die Fakten, weil erstens die UNO und nicht die Briten den Teilungsplan in einen arabischen und einen jüdischen Staat umsetzten, und weil zweitens nach Israel vertriebene oder geflohene Juden aus arabischen Staaten einen Großteil der jüdischen Bevölkerung Israels ausmachen.
Als Jassir Arafat, ein Adlatus des Mufti, in den sechziger Jahren dessen Funktion übernahm und aus der arabischen Bevölkerung plötzlich Palästinenser wurden, mussten weder die Stoßrichtung der Kampfparolen westlicher Imperialismus, westlicher Kolonialismus, Zionismus und westlicher Rassismus noch das Ziel, den Staat Israel von der Landkarte zu fegen, geändert werden. Das demonstrierte Traditionsbewusstsein und garantierte Kontinuität, auch wenn nicht mehr Nationalsozialisten und Faschisten, sondern Kommunisten Partner auf der Weltbühne waren. Verband der Mufti noch Islamismus und arabischen Nationalismus in Personalunion, setzte man nun auf arabischen Sozialismus, wobei der, anders als die europäischen Sozialisten, keine so starke Trennung zwischen Politik und Religion kannte. Nasser, der sich mit den ägyptischen Muslimbrüdern überworfen hatte, sie verfolgte und manche von ihnen hinrichten ließ, suchte nun gezielt nach einer säkularen Alternative für die Araber aus der ehemaligen osmanischen Provinz Palästina, um sie weiter militärisch und politisch gegen Israel kämpfen zu lassen. 1964 inspirierte er die Gründung der Palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) als Dachorganisation für die verschiedenen Kleingruppen, die Terroranschläge gegen Israel ausführten, vorzugsweise an seiner jüdischen Zivilbevölkerung. Am einflussreichsten unter diesen Gruppen wurde schließlich Arafats Fatah, die 1965 erstmals einen solchen Terroranschlag verübte. Zur gleichen Zeit nahmen der Ostblock und die DDR diplomatische Beziehungen zu arabischen Staaten wie Ägypten und Syrien auf, handelten unter anderem Waffenlieferungen für den panarabischen Kampf gegen Israel und später Unterstützungsleistungen unter anderem für die arabischen Palästinenser aus, die in der DDR ab 1973 eine offizielle Vertretung in Ostberlin hatten. Es war also mitnichten der Sechstagekrieg 1967, die israelische Eroberung Ostjerusalems und der Westbank von Jordanien, das diese Gebiete seit 1948/49 besetzt hielt, die den PLO-Terror hervorriefen, sondern das dem Mufti, der 1945 ins Leben gerufenen Arabischen Liga und der PLO gemeinsame Ziel, die jüdische Präsenz im Nahen Osten in Gestalt des jüdischen Staates zu vernichten.
Da sich auch in den Augen von „ruangrupa“ an der Notwendigkeit dieses Kampfes seit 1955 nichts geändert hat, halten sie – wie viele deutsche Kulturfunktionäre – ihre Palästinasolidarität aufrecht. Die documenta 15 war, auch wenn das selbstverständlich nicht auf jeden teilnehmenden Künstler und jedes dort zu bestaunende Kunstwerk zutrifft, im Kern eine antisemitische Agitprop-Veranstaltung.
Bereits die Wahl des Künstlerkollektivs „ruangrupa“ durch die documenta-Findungskommission sprach und spricht bis heute Bände. Ja, dass Kollektive immer eine Form organisierter Verantwortungslosigkeit sind, ist ein, aber noch nicht mal das allerschlimmste Problem gewesen. Das bestand vielmehr in dieser antiisraelischen Gefühls- und Gedankensymbiose zwischen den documenta-Organisatoren, den „künstlerischen“ Kuratoren und Verantwortlichen der lokalen und Landespolitik, die entweder Tage, Wochen, Monate brauchten, um zu kapieren, was ihnen seit über einem halben Jahr eine Handvoll Juden und Nichtjuden vergeblich klarzumachen versuchten, oder die es bis heute noch immer nicht begriffen haben. Dass es seitens „ruangrupa“ und ihrer deutschen Anwälte Rassismus- und Islamophobie-Vorwürfe hagelte, ist ein altbekanntes Spiel, dass man hierzulande wie auch international seit den späten sechziger, vor allem den siebziger Jahren kennt, das aber – geschichtsvergessen und ideologieverbohrt, wie es nun mal viele der documenta 15-Verteidiger auch in der deutschen Medienwelt sind – leider gut funktioniert. Auch das hat seine Gründe.
Erinnert sei nur an die Leipziger Rede des DDR-Staatsoberhaupts Walter Ulbricht kurz nach dem Sechstagekrieg im Juni 1967, die all die Propagandaversatzstücke versammelte, von denen die documenta 15 noch immer zehrte: westlicher Imperialismus, westlicher Kolonialismus, westlicher Rassismus, westlicher Klassenwahn, westlicher Militarismus und westlicher Faschismus. All das verkörperte für Ulbricht der Staat Israel. Im Herbst 1967 sogen die Kader des Sozialistischen deutschen Studentenbundes, von denen viele später Professoren wurden, all das in ihren antiisraelischen Resolutionen und Tribunalen begierig auf. Instruiert und unterstützt wurden sie dabei vom Marburger Politologieprofessor Wolfgang Abendroth, einem Sozialdemokraten, weshalb es kaum verwundert, dass sich dieses Reden und Denken selbst in Teilen der SPD bis heute gehalten hat und längst nicht nur bei den Grünen, die ja aus der Studentenbewegung hervorgegangen waren, zu finden ist. Man denke nur an die Verneigung des damaligen Außenministers und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor dem Grab Jassir Arafats im Jahr 2017. Hat sich der damalige deutsche Außenminister vor einem arabischen Terroristen verbeugt, der Arafat bis zu den Osloer Friedensverträgen war und nach ihrem Scheitern im Jahr 2000 wieder wurde, oder war Arafat für Steinmeier ein Freiheits- und Widerstandskämpfer?
Wohl eher letzteres, nehme ich an. Wie kam der in der alten Bundesrepublik sozialisierte Sozialdemokrat darauf? Im Zuge von Entkolonialisierung und Entspannungspolitik hatten sich die Mehrheitsverhältnisse in der UNO zugunsten von Autokratien, Monarchien und Diktaturen verändert. Das war die Voraussetzung für Arafats berüchtigten Auftritt vor der UN-Vollversammlung, bei dem er eine Welt ohne Imperialismus, ohne Kolonialismus, diesmal auch ohne Neo-Kolonialismus, womit er Israel meinte, und ohne Rassismus in all seinen Formen forderte, womit er den Zionismus meinte, den die PLO-charta von 1968 als Rassismus definiert hatte. Dafür erhielt er von den arabischen Staaten und allen Ostblockstaaten begeisterten Beifall. Arafat erhob – ganz wie seinerzeit der Mufti – den Anspruch auf ein ungeteiltes Palästina, womit er den UN-Teilungsbeschluss von 1947 angriff und revidiert wissen wollte. Das war nicht weniger als die politische Forderung nach der Beseitigung des Staates Israel, den er als „zionistisches“, ergo: rassistisches „Gebilde“ apostrophierte, um seine Realität rhetorisch nicht anerkennen zu müssen. Seine blumige Versicherung, er halte in der einen Hand einen Ölzweig und in der anderen eine Waffe, war nichts anderes als eine unverhohlene Terrordrohung, falls seinen Wünschen nach dem unblutigen Verschwinden Israels nicht entsprochen würde. Arafat setzte den angeblichen Rassismus der Zionisten mit dem – ebenfalls angeblich – ausschließlich westlichen – Antisemitismus gleich. Darin erkennt man unschwer die politisch-ideologische Agenda von Edward Saids Buch „Orientalismus“ von 1978, das im Grunde nichts anderes als eine in Wissenschaftsprosa gegossene, um ein paar historisch fragwürdige, nicht haltbare Erzählungen angereicherte PLO-Charta ist. Saids Pamphlet gilt als Gründungsdokument der postkolonialen Studien. Wer sie einkauft, handelt sich zwangsläufig Antisemitismus und den Hass auf den Westen ein. Auch das hat die documenta 15 hinlänglich bewiesen.
1975, ein Jahr nach Arafats Rede verabschiedete die UNO die Resolution 3379, die den Zionismus zum Rassismus erklärte, Israel auf eine Stufe mit Südafrika und Rhodesien stellte und damit als Apartheidstaat deklarierte. Zwar hat die UNO diese Resolution nach dem Kollaps des Ostblocks wieder kassiert, aber seit der Antirassismus-Konferenz zahlloser NGOs in Dhurban 2001 ist sie sinngemäß wieder voll im Umlauf und schwer in Gebrauch. Dhurban hat die antisemitische Israel-Boykott-Kampagne BDS vorbereitet, die wie die postkolonialen Studien ursprünglich an anglo-amerikanischen Universitäten entstanden ist, auch wenn ihr Geist auf die Boykottpraxis der Arabischen Liga zurückgeht. 2005 startete BDS offiziell als vorgebliche Initiative einer „palästinensischen Zivilgesellschaft“ – die nebenbei bemerkt gar nicht existieren kann, weil sie eine palästinensische Staatlichkeit zur Voraussetzung hätte, die es nicht deshalb nicht gibt, weil Israel sie verhindern würde, sondern weil die arabischen Palästinenser keinen weiteren arabischen Staat (Jordanien existiert seit 1946 und nimmt den größten Teil der ehemaligen osmanischen Provinz Palästina ein) neben Israel wollen, sondern an die Stelle von Israel zu treten beabsichtigen. Wäre es anders, würde ein arabisch-palästinensischer Staat seit 1937 (Peel-Plan), seit 1947/48, seit 2000 oder seit 2008 existieren, hätte es nie die drei berüchtigten Neins von Khartoum gegeben, die die Arabische Liga nach dem Sechstagekrieg 1967 statuiert hatte: Nein zur Anerkennung Israels, Nein zu Verhandlungen mit Israel, Nein zu Frieden mit Israel. Ägypten brach damit 1978/79 und handelte einen Friedensvertrag mit Israel aus. Jordanien folgte diesem Beispiel 1994. Und die Abraham-Abkommen zwischen Israel und arabischen und islamischen Staaten belegen gleichfalls, dass für beide Seiten vorteilhafte Bewegungen in den Beziehungen möglich sind.
Omar Barghouti, der weltweit als arabisch-palästinensisches Aushängeschild von BDS firmiert, ist ein Pappkamerad, der bemänteln soll, das hinter der antisemitischen Kampagne Terrororganisationen wie die Hamas stehen. Seit den Tagen des Mufti bis zur Israel-Boykott-Kampagne hat sich nicht viel verändert, was man unschwer an den drei Kernforderungen erkennt: die gezielt im Vagen gehaltene Forderung nach einem Ende der Besetzung allen arabischen Landes, legt eine Leimspur für westliche Adressaten, die darunter den israelischen Rückzug aus dem Westjordanland oder die Auflösung Israels verstehen können. Die zweite Forderung nach Gleichberechtigung funktioniert ähnlich. Bezieht man sie auf arabische Israelis, ist sie von ein paar Ungerechtigkeiten abgesehen, so gut wie erfüllt. Bezieht man sie auf die gesamte arabische Bevölkerung im Gaza-Streifen und im Westjordanland, die keine israelischen Staatsbürger sind, ist sie entweder sinnlos oder einer der doppelten Standards, mit denen Israel von Antisemiten schon immer gemessen wurde, weil kein Staat auf dieser Welt Nichtstaatsbürgern die gleichen Rechte gewährt wie seinen Staatsbürgern. Zu Ende gedacht, käme die Erfüllung dieser Forderung einer Selbstauflösung des jüdischen Staates gleich. Die Forderung nach einem Rückkehrrecht aller Araber, ihrer Kinder und Kindeskinder, also aller, deren Vorfahren bis 1947/48 auf dem Gebiet des heutigen Israel gelebt haben, egal ob sie damals aus dem heutigen Libanon, dem heutigen Syrien oder dem heutigen Jordanien eingewandert waren, würde nicht nur schlagartig die Mehrheitsverhältnisse in Israel umdrehen und damit den Existenzgrund des jüdischen Staates ad absurdum führen, sondern käme ebenfalls einer Selbstabschaffung Israels gleich. Man kann es also drehen, wie man will, alle BDS-Forderungen laufen auf die Beseitigung des jüdischen Staates hinaus. Aus diesem Grund ist die Boykottkampagne genauso antisemitisch wie das Treiben des Muftis, die Rede Arafats vor der UNO 1974 und sein Verhalten nach Ausbruch der zweiten Intifada, die er mitinitiiert hatte , die Charta der Hamas und ihre Terroranschläge. Deshalb kann man den Eindruck haben, BDS existiere schon viel länger als seit 2005. Aber dieser Eindruck entsteht nur, weil BDS nichts anderes und nur in anderen Worten formuliert, was seit dem Wirken des Mufti Doktrin unter arabischen Palästinensern und in weiten Teilen der arabischen und islamischen Welt ist: Hass auf Juden in Gestalt des Staates Israel, dessen Dämonisierung, Delegitimierung und Diffamierung durch doppelte Standards man unausgesetzt betreibt, wobei einem leider große Teile der Weltöffentlichkeit helfen, die Israel zum kollektiven Juden (Leon Poljakov) in der internationalen Staatengemeinschaft macht. (Zu empfehlen sind die beiden Bücher von Florian Markl und Alex Feuerherd über das Verhalten der Vereinten Nationen gegenüber Israel und zur antisemitischen Israel-Boykottkampagne BDS.) Nachdem der Mufti mit seinem nationalsozialistischen und faschistischen, Arafat mit seinen kommunistischen und arabischen Bündnispartnern, die Arabische Liga mit ihrer Boykottpolitik und ihrer Verhandlungsverweigerung gegenüber Israel allesamt gescheitert sind und auch die antisemitische BDS-Kampagne keinerlei Aussicht auf Erfolg hat, sollten arabische Palästinenser – wohlgemerkt: nicht arabische Israelis – und ihre Freunde im Westen endlich ihre Parallelwelt aus alternativen Fakten verlassen. BDS ist nicht deshalb toxisch, weil die Kampagne aussichtsreich wäre, sondern weil sie das zweitausend Jahre alte antisemitische Gift reaktiviert. Palästinenser erfüllen in Deutschland eine nicht zu unterschätzende Funktion.
Um in Israel „Apartheid“ festzustellen, wie Sigmar Gabriel das 2012 tat, oder Jassir Arafat als „Freiheits- und Widerstandskämpfer“ anzusehen und sich vor seinem Grab zu verneigen, wie Frank-Walter Steinmeier das 2017 tat, muss man faktenresistent sein, ein verzerrtes Weltbild und Palästinenser nötig haben, damit man scheinbar reinen Gewissens fühlen, denken und sagen kann, dass Israel Nichtjuden unisono ungerecht behandelt, unterdrückt, ihrer Rechte beraubt, durch seine Soldaten grundlos verfolgen und erschießen lässt. Dieter Kunzelmann und Linksterroristen der RAF waren Extremisten, die kaum Einfluss auf die Mitte der Gesellschaft nehmen konnten. Doch viele der Studentenbewegten von 1967/68 und derjenigen, die sich in den siebziger und achtziger Jahren in linken Gruppen an Universitäten engagierten, wurden Lehrer, Professoren, Journalisten, Staatsanwälte, Richter, Politiker, Kulturfunktionäre etc.pp, die dann wieder Schüler, Studenten und den Nachwuchs in allen möglichen Bereichen prägten. Die Jakob Augsteins, Sabine Schormanns, Carolin Emckes und diejenigen, die sich für den BDS-Unterstützer Achille Mbembe ins Zeug warfen, die „Initiative GG 5.3, Weltoffenheit“ gegen die Ächtung von BDS organisierten und unterzeichneten, mit der „Jerusalemer Erklärung“ die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angriffen, weil sie den israelbezogenen Antisemitismus implementiert hat, fielen nicht vom Himmel, sondern wurden mental durch die sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre sozialisiert. . Sie wiederholen fast ungebrochen die antiwestlichen Gewissheiten der Dritten Welt-Ideologie, zu welcher Israelfeindschaft gehört wie das Amen in der Kirche und ein Antirassismus zählt, der vom Exotismus im wilhelminischen Kaiserreich nicht zu unterscheiden ist.
Mit der zweiten Intifada im Jahr 2000 begann, was Forscher treffend die Israelisierung des Antisemitismus nennen. Auf einmal war von der „Sichtblende Auschwitz“ (u. a. Klaus Holz, Enzo Traverso) die Rede, die angeblich einen unvoreingenommenen Blick auf Israel verstellen würde. Anfang Oktober 2000 hatten nicht, wie es zuerst hieß, rechtsextreme Jugendliche, sondern ein junger Marokkaner und ein junger Palästinenser den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge verübt, um die Tötung Mohammed al-Durahs durch israelische Soldaten in Gaza zu rächen, die sich nie verifizieren ließ und heute als mediale Inszenierung (Pallywood) gilt, um die Weltöffentlichkeit gegen Israel einzunehmen. Obwohl es – damals vorzugsweise im Osten der Bundesrepublik – genügend Beispiele für tödliche, manchmal mörderische rechtsextreme Gewalt gab, inspirierte paradoxerweise der antisemitische Anschlag der beiden arabischstämmigen Jugendlichen Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ gegen Rechtsextremismus und zu einem, leider gescheiterten NPD-Verbotsverfahren.
Arafats PLO und die Palästinenser standen hingegen ungebrochen in der Gunst deutscher Politiker aller Couleur von Jürgen Möllemann und Jamal Karsli (Israels angeblicher „Vernichtungskrieg“ und „Nazi-Methoden“ gegen Palästinenser, „zionistische Lobby“ in der Bundesrepublik, die Kritik an Israels Politik verhindere) über Hans-Christian Ströbele und Norbert Blüm bis hin zu Heidemarie Wieczorek-Zeul und Oskar Lafontaine, die ihre Parteilaufbahnen in den siebziger und achtziger Jahren begonnen hatten. Warum Andrea Nahles die Fatah für so etwas wie arabische Sozialdemokraten hält und die Jusos praktisch nichts mehr unternehmen wollen, das nicht von palästinensischen „Partner“organisationen geteilt und mitgetragen wird, dürfte inzwischen klar sein. Natürlich gibt es auch die Gitta Connemanns, Michaela Engelmayers, Michael Roths, Volker Becks, Lorenz Deutschs, die sich öffentlich immer wieder lautstark gegen Israelfeindschaft einsetzen und in Arafats Nachfolger Mahmud Abbas keinen Friedensengel sehen. Wäre schön, wenn es mehr von ihnen gäbe.
Durch die Etablierung der postkolonialen Studien an hiesigen Universitäten ab Mitte der Nullerjahre wurde die nächste Generation auf Israelfeindschaft eingeschworen. Edward Saids „Orientalismus“, der in Deutschland lange überhaupt keine Rolle spielte, weil Muslimbrüder – seit den späten fünfziger Jahren -, vor allem aber die 68er den Israelhass einspeisten, steht auf einmal hoch im Kurs. Der neue Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, Bonaventure Ndikung, der seine BDS-Affinität leugnet wie seinerzeit Achille Mbembe, hat schon angekündigt, die Perspektiven von Juden und die Perspektiven postkolonialer Studien versöhnen zu wollen, denn schließlich haben Juden, Schwarze und – so muss man hinzufügen – Muslime in Deutschland den gleichen Feind: Rechtsextreme und „rechte“ Gewalttäter, während Linke in allen ihren Ausprägungen als praktisch geborene Menschenfreunde Juden, Schwarze und Muslime wertschätzen und nur „jüdische Kapitalisten“, Zionisten und Kritiker des politischen Islam schwierig finden. Es hat sich seit dem „Aufstand der Anständigen“ nicht so furchtbar viel geändert im Land. Man braucht auch nicht BDS, um Juden- und Israelfeinden eine Stimme zu geben. „Artists for Palestine“, die Nkdikung unterstützt, genügen vollauf.
Abschließend noch ein paar Worte über Kunst, Kultur und Politik, die nach Ndikungs Vorstellungen in der „Schwangeren Auster“ künftig eng verzahnt werden sollen, weil Kunst und Kultur aus seiner Sicht keine andere Aufgabe haben, als politische Botschaften zu verticken. Womit Agitprop mustergültig definiert ist. Man wolle ja schließlich keinen „Ästetizismus“, sagt die ehemalige Kulturstaatsministerin. Nun ist erstens die christlich-abendländische Kunst und Kultur von den Judensäuen und Ecclesia versus Synagoge-Darstellungen an und in Kirchen über Johann Sebastian Bachs Passionen und Motetten – die ich trotzdem höre – bis hin zu Wilhelm Raabes „Hungerpastor“ mit Antijüdischem vermählt, während Marcel Proust die Dreyfus-Affäre, James Joyce den Judenhass im Alltag der irischen Metropole und Robert Musil den Vorkriegs-Antisemitismus der Kaiserstadt Wien verarbeiten konnten, ohne daraus die politische Botschaft ihrer Werke zu machen. Als Ästetizisten sind Proust, Joyce und Musil nicht verschrien. Das gleiche gilt für Salman Rushdie, Toni Morrison, die Beatles, Jessy Norman, Pedro Almodovar, Harry Belafonte, die Barry Sisters, Kent Nagano, Django Reinhardt und selbst noch für Billie Holidays „Strange fruit“. Vielen Weißen war Holiday zu schwarz, einigen Schwarzen zu weiß. Es muss zwischen Agitprop und politischer Askese eine Menge mehr geben: Kunst und Kultur zum Beispiel.