Über weite Strecken ist die Lektüre von Dan Diners Buch über das jüdische Palästina und den Zweiten Weltkrieg ungemein fesselnd. Diner führt die Gefährdung
des Yishuvs durch den nazi-deutschen Vormarsch in Nordafrika, auf den griechischen Inseln und im Kaukasus eindringlich vor Augen. Der Holocaust, das betont
Diner zu Recht, fand „im Schatten“ des Zweiten Weltkriegs statt und weist gegenüber anderen Genoziden einige Besonderheiten auf: Die „Endlösung“ zielte
auf die totale (überall, ausnahmslos) und systematische (organisierte) Vernichtung aller Juden ab. Anderswo als hinter den deutschen Fronten wäre sie unmöglich
gewesen.
Juden, Araber und Briten in Palästina
Entrechtung und Vertreibung durch forcierte Auswanderung von Juden waren Diner zufolge auch für polnische und rumänische Regierungspolitiker der Zwischenkriegszeit
ernsthafte Optionen. Bis zum nazi-deutschen Novemberpogrom 1938 kamen überwiegend Juden aus Polen, Rumänien oder Ungarn nach Palästina. Doch viele scheiterten
an der durch die britische Mandatsmacht für Juden strikt reglementierten Einwanderung. Für die Briten zählte die wirtschaftliche, nicht die politische
Machbarkeit.
Der arabische Aufstand von 1936 bis 1939 richtete sich wie alle antibritischen und antijüdischen Revolten (1920, 1929) gegen jegliche jüdische Einwanderung.
Sein Anführer, Haj Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, hatte bereits 1931 einen islamischen Weltkongress in Jerusalem veranstaltet und den lokalen
Palästina-Konflikt zu einer panislamischen, schließlich zu einer panarabischen Angelegenheit erklärt und auf diese Weise internationalisiert. Fortan mussten
die Briten, so Diner, die indischen Muslime berücksichtigen. Hätte sich bei innerarabischen Rivalitäten in Palästina, die Diner leider unerwähnt lässt,
nicht der Husseini-Clan, sondern jener der Naschaschibis durchgesetzt, wären vermutlich schon damals andere Konfliktlösungsmodelle präferiert worden. Diners
Einschätzung, dass den palästinensischen Arabern mit dem NS-Kollaborateur al-Husseini und seinen Getreuen das politische Personal abhandengekommen sei,
ist wenig plausibel. Al-Husseini pflegte handfeste innerarabische Konkurrenzen nicht durch Verhandlungen, Abstimmungen oder Wahlen, sondern durch Einschüchterung,
Erpressung und im Extremfall durch Mord zu regeln. Diners Bemerkung, auch manche Araber hätten eine Rückkehr des Muftis ins damalige Mandatsgebiet gefürchtet,
ist realistischer. Implizit pointiert Diner durch seine Darstellung der verschiedenen zionistischen Organisationen und Akteure, allen voran der Jewish
Agency, den Unterschied zwischen jüdischen und arabischen Interessengruppen. Revisionisten wie Wladimir Jabotinsky vertraten innerhalb eines pluralistisch
organisierten Zionismus immer nur eine von vielen Strömungen und nie die dominierende.
Mit dem Weißbuch von 1939 gingen die Briten auf Distanz zu ihrem Mandatsauftrag, der Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina. Für den damaligen
britischen Premier Neville Chamberlain hatten die aufständischen Araber am Ende mehr Gewicht als die Juden. Diner, nie um eine manchmal erkenntnisfördernde,
manchmal ins Leere laufende Analogie verlegen, trifft an dieser Stelle einen wahren Kern, der allerdings mehr mit Chamberlains desaströser Beschwichtigungshaltung
zusammenhängt als mit einer Vergleichbarkeit von Sachverhalten: Chamberlain ließ die Juden 1939 fallen wie im Jahr zuvor die Tschechoslowakei. Analogien,
Metaphern, Bilder, Argumente etc. sind aber als solche schon immer Interpretationen, weshalb „Tatsachen“ oder „Ereignisse“ nicht einfach ihre „Gestalt
[…] annehmen“ können, wie Diner in seiner Einleitung irrtümlich meint. Methodisch ist das furchtbar heikel.
Erweiterte Weltkriegsgeschichte? Kolonialgeschichte?
Diners Buch ist keine räumlich erweiterte Weltkriegsgeschichte. Seine Fokussierung auf Logistik und Infrastruktur (Rohstoffe, Nachschub-, Versorgungs-,
Transport- und Kommunikationswege etc.) erleichtert es, militärstrategische und geopolitische Erwägungen nachzuvollziehen. Darüber hinaus ist der Bedeutungsgehalt
geografischer Koordinaten – als politische spielen sie bei Diner keine Rolle – jedoch schnell ausgereizt. Gleiches gilt für den „Raum“, der in diesem Zusammenhang
nur als kontrollier- und beherrschbarer von Interesse ist. Die wechselnden Kriegsschauplätze, die Diner in vielen Retro- und Prospektiven selten mehr als
nur streift, sind durch exzellente Forschungsarbeiten, Sachbücher oder Dokumentarfilme geläufig. Auch die Einsicht, dass der Sieg der britischen Truppen
bei El-Alamein 1942 und der Sieg der Roten Armee in Stalingrad 1942/43 den Yishuv vor der andernfalls erfolgten Vernichtung bewahrt hatten, ist nicht neu.
Diners Punkt ist ein anderer: Im Yishuv selbst herrschte Klarheit darüber, dass diese Schlachten nicht stattgefunden hatten, um die Juden Palästinas vor
dem nazi-deutschen Zugriff zu bewahren. So gesehen war ihr Überleben tatsächlich „reiner Zufall“, wie Diner Yaakov Zerubavel von der Poale Zion im Titel
des letzten Kapitels treffend zitiert. Es gab keine jüdische Armee, wie sie der außerordentliche Zionistenkongress im Biltmore-Hotel Anfang Mai 1942 ersehnte.
Mit dessen Darstellung beginnt Diners Buch.
Die Jahreszahl „1935“ im Untertitel steht für den Überfall des faschistischen Italiens auf Äthiopien. Doch ist Diners Buch auch keine Kolonialgeschichte.
Außer Nazi-Deutschland waren alle Weltkriegsparteien damals Kolonialmächte. Bei Diner steht als Mandatsmacht in Palästina naturgemäß das völlig überdehnte
britische Empire im Rampenlicht. Es versteht sich von selbst, dass die Briten im Zweiten Weltkrieg ihr ‚Mutterland‘, ihr Mandatsgebiet und ihre Kolonien
verteidigten und dafür sämtliche Ressourcen ihrer Einflusssphäre nutzten. Das antikoloniale und antiimperialistische Banner, das Achsen-Kollaborateure
wie Subhash Chandra Bose oder Raschid Ali al-Gailani schwenkten – seit Simon Wiesenthals Broschüre über al-Husseini von 1947 ist das bekannt –, hätte Diner
entschieden kritischer beleuchten können.
Der Unterschied wiederum zwischen der britischen Kolonialherrschaft in Indien und der britischen Mandatsherrschaft in Regionen des ehemaligen Osmanischen
Reichs ergibt sich aus Diners Darstellung, hätte aber stärker prononciert werden müssen. Ziel eines Völkerbundmandats war der Aufbau politisch, juristisch
und wirtschaftlich lebensfähiger, unabhängiger Staaten. Der 1932 begründete Irak ist dafür das beste Beispiel. Im Kapitel „Kein Amritsar in Bagdad“ legt
Diner dar, weshalb die Briten beim Farhud nicht einschritten, dem Pogrom an den Juden von Bagdad Anfang Juni 1941. Amritsar steht für das Kolonialmassaker,
das britische Militärs 1919 in der gleichnamigen Stadt an der indischen Zivilbevölkerung verübt hatten. Man kann die nachträgliche Begründung der Briten,
sie hätten in Bagdad ein zweites Amritsar vermeiden wollen, für eine zynische Schutzbehauptung halten. Sie belegt aber, dass die Briten, wie Diner zeigt,
nur durchgriffen, wenn ihre imperiale Autorität auf dem Spiel stand. Das war beim Farhud, der etwa 140 irakische Juden das Leben gekostet hatte, nicht
der Fall.
Je unwiderruflicher die Kriegsniederlage Nazi-Deutschlands ab 1942 wurde, desto energischer und unerbittlicher betrieb es den Holocaust (den al-Husseini,
der von 1941 bis 1945 in Berlin wirkte, tatkräftig unterstützte). Wie Diner schreibt, nutzte Hitler die Zeit bis zur Eröffnung einer Zweiten Front in Europa,
um die Judenvernichtung konsequent umzusetzen. Das war der „andere Krieg“, den Nazi-Deutschland gegen die Juden führte. Die Alliierten kämpften gegen Hitler,
aber nicht – und das war vielen von ihnen bewusst – für den Schutz von Juden. Nichts macht Dan Diner deutlicher als dies und darin besteht die Bedeutung
seines Buchs.
Quelle: https://literaturkritik.de/diner-ein-anderer-krieg,28206.html