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Demokratiegefährdungen

Das 21. Jahrhundert scheint das 20. Genauso auszuschwitzen, wie dieses das 19., das die Diktaturen, Autoritarismen, Totalitarismen vorbereitet hatte. Bis ins letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrtausends bekämpfte der Westen die reaktionären Auswüchse der Moderne. Sie stinken immer noch und werden das auch noch eine weitere Weile tun.
Die Existenz etablierter liberaler Demokratien, so ernsthaft gefährdet sie von Zeit zu Zeit sein mögen, kann diesen Prozess des endgültigen Abschieds von politischen Chimären beschleunigen.
Kriege haben im modernen Europa meist, wenn auch nicht immer, dazu geführt, das eine bestehende Ordnung, die durch sie gefestigt und erweitert werden sollte, durch sie zerfiel. Am Ende des Ersten Weltkriegs gab es kein wilhelminisches Kaiserreich, kein Habsburger Reich, kein Osmanisches Reich und kein russisches Zarenreich mehr.
Die jungen Demokratien, die in Mittel- und Osteuropa aus ihnen entstanden, waren in der Zwischenkriegszeit instabil und hielten mit Ausnahme der CSR, die von außen zerstört wurde, nicht stand, entwickelten sich recht rasch zu autoritären und diktatorischen Ordnungen. Anders ausgedrückt: Es war nicht der Erste Weltkrieg, der dem 19. Jahrhundert den Garaus machte. Im Gegenteil.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen sich alte wie neue liberale Demokratien auf der einen Seite und der Ostblock mit seinen staatssozialistischen (kommunistischen) Diktaturen auf der anderen in Blöcken gegenüber. Dass der Ostblock Ende der 1980er Jahre praktisch über Nacht in sich zusammenfiel – er implodierte -, lag in der Natur der Sache, vulgo: ihrer politisch-juristischen Ordnung, die nicht in der Lage war, die in ihr lebenden Menschen zu binden und wirtschaftlich überlebensfähig zu sein.
Noch einmal: Die beiden Weltkriege wurden geführt, um alte monarchistische und neue diktatorische Staatsmodelle zu stabilisieren, schwemmten aber freiheitsfeindliche und antidemokratische Akteure nach oben, die zwar durchaus modern, aber durch und durch reaktionär gewesen sind. Im Schatten beider Kriege vollzogen sich zwei Völkermorde, der an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 und die Shoah 1941/45, die beide unter anderen Bedingungen in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen wären. Sie hatten verschiedene Ursachen und unterschiedliche Dimensionen, bewiesen aber, dass die gezielte und planmäßige Ermordung ziviler Bevölkerungsgruppen im 20. Jahrhundert realisierbar geworden ist. (Ich möchte den Völkermord der deutschen Schutztruppen an den Herero und Nama im kolonisierten Südwestafrika ab 1904 nicht unterschlagen. Er war aber eine andere Hausnummer, weil er weder staatlich angeordnet und geplant gewesen ist noch darauf ausgelegt war, eine bestimmte zivile Bevölkerungsgruppe absichtsvoll und gezielt zu vernichten.)
Wladimir Putin hatte seinen Angriffskrieg auf die Ukraine schon verloren, bevor er ihn überhaupt begonnen hat. Putin versucht mit diesem Krieg, seine Herrschaft zu stabilisieren und eine Mischung aus zwei längst untergegangenen Welten wiederherzustellen: das russische Zarenreich und die Sowjetunion. Beides nicht so, wie sie faktisch einmal existierten – was will ein Hinterhofschläger und Bandenanführer auf einem Zarenthron? Hätte es für die Spitze des kommunistischen Zentralkomitees zu nachstalinistischen Sowjetzeiten überhaupt gereicht? -, aber so, wie sich eine mediokre Figur die individuelle Machtfülle in solchen Positionen vorstellt.
Ein Irrtum übrigens, denn ohne seine Clique, ohne die Morde an Oppositionellen – Stichwort: Einschüchterung der Massen -, die Ausschaltung der Presse- und Meinungsfreiheit – Stichwort: Wer widerspricht ist Volksfeind und Faschist – liefe gar nichts. Das historische Geplapper dient nur der Stütze dieser mörderischen Allmachtsfantasien. Für Putin und seine Clique sind die Russen nur Verfügungs- und Knetmasse, ihre jungen Männer bestenfalls Kanonenfutter. Die Russen, die Putin und seiner Clique auf den Leim gehen, leben mental in einer tödlichen Scheinwelt und glauben wahrscheinlich wirklich, dass ihre Kinder den „heldenhaften“ Kampf ihrer Großväter und Großmütter gegen Nazi-Deutschland wiederholen und der Westen nichts Besseres zu tun hätte, als sie militärisch einzukreisen und anzugreifen, was er übrigens noch nie getan hatte, auch wenn die kommunistische Propaganda Faschismus und Nationalsozialismus unermüdlich als Produkte des Westens darstellte. All diese Fantasien sind gespenstisch. Allerdings in Schwundformen auch hierzulande noch zu hören.
Zum Silvestervideo der Verteidigungsministerin ist alles gesagt worden. Wenn der Stand der Reflexion und die mentale Einstellung zu vieler Parteifunktionäre sich auf einem ähnlichen Niveau bewegen, wird es langsam kritisch.
Denn nur, wenn die Ukraine schnellstmöglich die schweren Waffen erhält, die sie benötigt, um den Krieg zu gewinnen, haben die liberalen Demokratien, die Putin stellvertretend in der Ukraine angreift, über einen ihrer erbittertsten Feinde gesiegt.
Trump ist seit zwei Jahren Geschichte, Bolsonaro ist das inzwischen ebenfalls. Erdogan sollte es baldmöglichst sein, obwohl es derzeit nicht danach aussieht.
Schaffen es die Iranerinnen und Iraner, das Mullah-Regime zu Fall zu bringen, wäre der Nahe Osten den derzeit schlimmsten seiner destabilisierenden Faktoren los. Über kurz oder lang wird mit Putin auch Assad fallen und mit Erdogan der Einfluss der Muslimbrüder sinken, auch wenn sich Katar als einer ihrer Hauptsponsoren recht erfolgreich in Europa eingekauft hat.
Gewiss, der saudische Wahhabismus oder Salafismus ist alles andere als ohne, bliebe dann aber neben den Muslimbrüdern vorläufig der letzte islamistische Einflussfaktor in Europa. Denn mit Erdogan fielen auch Vereine wie die DITIB und Millî Görüs. Zukunftsmusik, schon klar, aber sie alle sind neben den Rechtsextremisten und Linksextremisten, die den Rechtsstaat und seine Repräsentanten verachten und angreifen, die parlamentarische Demokratie, ihre Institutionen und Verfahren ebenfalls ver- und missachten, diejenigen, die unseren liberalen Demokratien – anders als Putin von außen – im Innern gefährlich werden können. Weniger, weil sie die Nichtmuslime islamisieren könnten, sondern weil sie Druck auf die hier lebenden Muslime ausüben und durch die Partnerschaft mit den Staat Einfluss auf Politik und Verwaltung gewinnen. Dass unsere Innenministerin das noch immer nicht verstanden hat, zeigt ihr Auftreten bei der letzten Islamkonferenz im vergangenen Dezember. Man wünscht ihr bessere Berater und Experten!