„Ich habe mich umgedreht, ob hier vielleicht irgendwo eine Russin oder ein Bulgare ist“, erzählte mir eine afrodeutsche Freundin, Ossi wie ich, „weil der Studienleiter mich ja nicht gemeint haben konnte, als er sagte, dass er abschließend noch unsere ausländische Kommilitonin begrüßen wolle.“ War aber so. Anhaltinische Provinz irgendwann Mitte der Achtziger. Tiefster Osten also. „Manchmal wollten die Küchenfrauen an der Essensausgabe meinen Pass sehen, bevor ich meinen Teller bekam“, lachte sie, „Ich musste diskutieren, weil ich keinen hatte, da ich nun mal keine Ausländerin war.“
Sie hat Schlimmeres erlebt, worüber sie fast nie redete. Trotzdem wollte sie unbedingt alleine eine Fahrradtour durch den östlichen Norden machen. Ende der Neunziger. Da ich damals an zehn Tagen von den sieben, die Gott allwöchentlich werden lässt, mit Rechtsextremismus befasst gewesen bin, versuchte ich, ihr das auszureden. Ohne Erfolg. Es ist gut gegangen. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn man ihre Unbeirrtheit, ihr Stehvermögen oder ihren Mut bewunderte, ihren außergewöhnlichen und nüchternen Sachverstand – sie ist Ökonomin und Juristin – bemerkte oder ihre Stärke lobte. Nicht weil sie geargwöhnt hätte, man stelle das fest, weil man Schwarzen so etwas im Allgemeinen nicht zugetraut hätte, sondern weil sie meinte, das sei ja immer alles nur ein sehr kleiner Teil von ihr. Wie ihre Hautfarbe. Sie nahm sich selber als Mensch wahr und verlangte das auch von anderen, vor allem: als Individuum gesehen und anerkannt zu werden.
Wir haben uns länger nicht gesprochen. Ich weiß nicht, wie sie über Identitätspolitik und Black Lives Matter denkt. Die „Initiative Schwarzer Menschen“ belächelte sie seinerzeit als kindisch. Ich sah das nicht ganz so, verstand aber, was sie meinte. Sie ist bei weitem nicht die einzige Afrodeutsche, die ich kenne, und die so denkt.
Gestern habe ich mir auf YouTube einen älteren Talk des Schweizer Fernsehens angesehen, in dem Ijoma Mangold, leicht entnervt von einer Genderwissenschaftlerin, die fortgesetzt darauf, beharrte, Menschen vorrangig als Gruppenwesen wahrzunehmen, entgegnete, es seien nicht die Minderheiten als solche, die diesen Cancel-Irrsinn an US-amerikanischen Universitäten und anderswo veranstalten. Das wichtige Argument ging in einem Halbsatz fast unter. Nicht die Minderheiten, sondern diejenigen, die vorgeben, in ihrem Namen aufzutreten oder sich als ihre Anwälte aufspielen (ich dachte sofort an die Genderwissenschaftlerin), stressen die Gesellschaft. Und zerstören nebenbei unsere liberalen Demokratien, weil die nun mal auf den Freiheitsrechten von Individuen beruhen, nicht auf denen von Kollektiven.
Ich las noch einmal die „Tagesspiegel“-Artikel Fatina Kailanis vom Januar 2021 zu Identitätspolitik als Geschäftsmodell und zum Shitstorm, den sie daraufhin erntete: https://www.tagesspiegel.de/politik/wenn-weiss-sein-zum-makel-gemacht-wird-4222921.html und https://www.tagesspiegel.de/meinung/was-ich-erlebte-als-ich-uber-antirassismus-schrieb-4732792.html. Einige Aktivisten fühlten sich prompt gemeint, als Keilani pauschales Aufschreien und generalisierende Anklagen aufgrund lediglich gefühlter oder bloß behaupteter Benachteiligungen kritisierte. Es steht außer Frage, dass Minderheiten ein bevorzugtes Ziel rechtsextremer Attacken oder auch von Beleidigungen im Netz sind. Auch glaube ich gern, dass man da und dort diskriminiert wird, weil man einer Minderheit angehört. In meinen Augen wäre es dumm, die Individualisten unter den Minderheiten gegen die aktivistischen Gruppenmenschen unter ihnen ausspielen zu wollen, wobei ich letztere für eine wiederum überschaubare Minderheit innerhalb ihrer jeweiligen Minderheit halte.
Gelegentlich sind autochthone Deutsche ebenfalls von Morddrohungen betroffen, werden eingeschüchtert oder erhalten Hassmails. Und dies nicht erst seit gestern. Manchmal betraf das schon mal Polizisten, denen Rechtsextremisten zu verstehen gaben, dass sie wüssten, wo sie wohnten und wo ihre Kinder zur Schule gingen. Ich erinnere mich noch gut an Beratungsgespräche, kleinere und größere Veranstaltungen auf Kuhklitschen und in Kleinstädten im Osten. Es gehören nicht so furchtbar viele „Kameraden“ dazu, eine ganze Kommune in Schach zu halten, Angst und Schrecken zu verbreiten und unter den Bewohnern einen Konformitätsdruck zu erzeugen, dem der überwiegende Rest sich beugt. Es nützt Ihnen nichts, zur autochthonen „Mehrheit“ zu gehören, wenn niemand bereit ist, Ihnen im Falle einer Bestrafungsaktion beizuspringen. So war die Situation vielerorts im Osten während der Neunziger. Heute ist das dort anders.
Und auch autochthone Deutsche haben Schwierigkeiten, eine bezahlbare, mancherorts selbst eine nicht ganz so günstige Wohnung zu finden. Ein Blinder erzählte mir, sein Vermieter habe unter 500 weiteren Bewerbern ausgerechnet ihm seine jetzige Wohnung gegeben, weil er glaubte, bei etwaiger Zahlungsunfähigkeit wenigstens das Blindengeld pfänden lassen zu können (ein Irrtum, by the way). Wenn Vermieter oder Arbeitgeber sich nicht ausdrücklich einen Schnitzer erlauben – sie kennen die Gesetze und werden einen Teufel tun -, dürfte eine Benachteiligung aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe nicht leicht nachweisbar sein. Unsere neue Antidiskriminierungsbeauftragte verkündet am laufenden Band Zahlen über Anfragen an ihre Behörde, die in der Regel keine faktisch bereits erwiesenen, sondern vermutete oder befürchtete Diskriminierungen sind.
Die allermeisten schlechten Erfahrungen mit Autochthonen hierzulande, dürften schwarze Menschen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte und andere Autochthone miteinander teilen. Jeden bösen Blick, jede abwertende Geste, jede Zurück- oder Zurechtweisung, überhaupt alles, was einem an Unangenehmem im täglichen Umgang mit Menschen begegnen kann, auf Herkunft oder Hautfarbe, gar Religion zurückführen zu wollen, bewegt sich fernab jeder Realität, erzeugt Narzissmen und Neurosen bei Minderheiten und Mehrheiten gleichermaßen.
Menschen grundsätzlich als Individuen anzusehen, halte ich für den erfolgversprechendsten Weg, Benachteiligungen abzubauen. Ganz ohne Antidiskriminierungsbeauftragte. Ist auch in jeder Hinsicht kostengünstiger. Und sparen sollen wir ja immer überall.