Race, Class, Gender – diesen Dreiklang scheint das Nobelpreiskomitee seit letztem Jahr zu klimpern. Was ist daran falsch? So ziemlich alles. Die drei Kategorien waren im 19. und bestimmt auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktuell. Heute klingen sie hohl. Im Westen haben die Emanzipationsbewegungen Gleichberechtigung durchgesetzt. Zugegeben zeitversetzt. Danach ging und geht es darum, auf diesem gesetzlichen Fundament Gleichbehandlung einzufordern und einzuklagen, was seit fünfzig Jahren erfolgreich geschieht.
Sozialporno?
Ich habe noch nie ein Buch von Annie Ernaux gelesen und vertraue den Literaturredaktionen, die die literarische Qualität ihrer Texte loben. Ich kann mir selber kein Urteil über sie erlauben. Aber wer Ernaux‘ Texte mit denen Marcel Prousts vergleicht, kann Proust unmöglich gelesen haben, denn seine „Recherche“ ist weder Autofiktion noch steht ein bestimmtes soziales Herkunftsmilieu im Mittelpunkt seines Schreibens, auch wenn Proust gerade Facetten sozialen Herkommens, die feinen Unterschiede und Dünkelhaftigkeiten seiner Figuren immer wieder mit so unendlich vielen anderen Betrachtungsweisen zusammenknüpft.
Prousts Schreiben ist im Übrigen wie das von Joyce, Kafka, Woolf oder Musil nicht die schlechteste Schule, um das Erfassen, aber auch das Formulieren komplexer Zusammenhänge und Gedanken zu lernen.
Ernaux hat – wie in den vergangenen zweihundert Jahren Millionen vor, neben und nach ihr – ein soziales Herkunftsmilieu verlassen, ist dabei nicht ab-, sondern aufgestiegen. Soweit ich den Besprechungen und dem Hören von Ausschnitten aus ihrem Werk entnehme, befasst sie sich mit den veränderten Sichtweisen und den Gefühlen, die entstehen, wenn sich eine Kluft auftut zwischen den Gewohnheiten und Ansichten des Elternhauses, das man verlassen hat. Gerade weil Abermillionen von Menschen Erfahrungen wie diese vor allem im 20. Jahrhundert gemacht haben, lohnt es sich, sie literarisch zu verarbeiten. Aber zu glauben, man könne dadurch seine „Klasse“ oder sein Milieu „verraten“ verrät seinerseits ein ziemlich grobschlächtiges Gruppendenken. Und wenn man über den Tellerrand seiner eigenen Herkunfts- und Erfahrungswelt hinausschaut, sollte einem auffallen, dass bei einer solchen Obsession für die eigene soziale Mobilität immer auch ein kleiner narzisstischer Unterton mitschwingt.
Die Verklärung der kleinen Verhältnisse
Dem Arbeitermilieu oder den viel beschworenen „kleinen Verhältnissen“ zu entstammen, besagt erstmal nicht viel. Die Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts legte viel Wert auf eine solide Bildung, weshalb Arbeiterbildungsvereine aus dem Boden schossen wie Pilze. Aus dieser Tradition kommt der Typus des belesenen Arbeiters und die Bildungsbeflissenheit der Stehkragenproleten. Man hatte zu Hause Lexika, die man brauchte, um am Wochenende Kreuzworträtsel zu lösen, las dieses oder jenes Buch aus der Leihbibliothek, in jedem Fall Zeitungen und Zeitschriften und ging, da Proletarier nun mal in oder am Rande von Städten lebten, schon mal in Vergnügungsparks, in Panoptiken, in den Zirkus und später ins Kino. Radio und Fernsehen kamen später hinzu. Kurz gesagt: Über eine solide Halbbildung, wie sie ein jeder von uns auf sämtlichen Gebieten besitzen kann, auf denen er kein Experte ist, verfügte auch das Industrieproletariat des 20. Jahrhunderts. Intelligenz, die ohnehin milieuunabhängig ist, ist nochmal etwas völlig anderes. Künstlerische Begabungen und Fähigkeiten sind das auch.
Worauf ich hinauswill: Politische Überzeugungen, Einschätzungsvermögen oder Ideologieanfälligkeit haben nichts mit Bildung, Intelligenz und künstlerischem Können zu tun. Mit Ausnahme Maos kamen all die Führergestalten, die im 20. Jahrhundert so viel Unheil anrichten sollten, also Mussolini, Stalin und Hitler aus kleinen Verhältnissen. Ihre Stunde schlug in der Zwischenkriegszeit. Es gibt keinen Grund, so zu tun, als wüsste man nicht schon längst, dass Menschen aus weniger betuchten Verhältnissen nicht zwangsläufig eine bessere Politik machen. Die Bildungsoffensive der 1960er Jahre hat auch im Westen den Kindern armer Leute Bildungschancen und Karrierewege eröffnet, die für die meisten von ihnen zuvor undenkbar gewesen sind. Diese Generation ist heute im Rentenalter. Zu ihnen gehören viele ehemalige, aber auch noch aktive SPD-Politiker. Allen voran Gerhard Schröder.
Die Bildungskarriere der heute 82-jährigen Schriftstellerin Annie Ernaux ist im Westen seit über einem halben Jahrhundert jedenfalls alles andere als ungewöhnlich.
Race, Class, Gender = Migranten? Quatsch!
Dass erst die Kinder und Enkel vieler türkischer Einwanderer studiert haben, hängt damit zusammen, dass ihre Eltern und Großeltern oft keine Berufsausbildung und viele ihrer Mütter und Großmütter auch keinen Schulabschluss, geschweige denn ausreichende Sprachkenntnisse mitbrachten. Die türkische Putzfrau mit Kopftuch ist nicht Ausdruck eines Rassismus der Mehrheitsgesellschaft, sondern mangelnder Bildungschancen ihres Herkunftslandes.
Den arabischen Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Libanon und den Großfamilien aus der Türkei, die nach dem Anwerbestopp 1973 in die Bundesrepublik kamen, hätte es nicht geholfen, wenn sie eine Arbeitserlaubnis erhalten hätten, da sie in der Regel weder über eine Ausbildung noch über Sprachkenntnisse verfügten. Dass auch ihre Kinder in der Bundesrepublik die Schule besuchen und studieren konnten, belegt, dass auch sie Chancen erhielten, die sie und ihre Eltern in ihren Herkunftsländern niemals bekommen hätten.
Warum attackiert Madame Ernaux den Staat Israel?
Juden kennen die Erfahrung sozialer Mobilität sehr gut und sehr genau. Warum also attackiert Ernaux gerade sie? Weil Juden auf einem klitzekleinen Fleckchen Erde, das so groß ist wie das Bundesland Hessen, das dünn besiedelt, versumpft und karg war, einen Staat aufgebaut haben, der ihnen Selbstbestimmung erlaubt und Sicherheit verspricht? Jüdische Israelis haben heute Probleme, die fast alle denjenigen ähneln, teilweise sogar gleichen, die Nichtjuden im Westen auch haben. Nur ein Problem ist Juden geblieben, das Nichtjuden nicht kennen: die unausgesetzte Infragestellung ihrer Existenz.
Warum unterschreibt eine akademisch ausgebildete französische Schriftstellerin aus kleinen Verhältnissen Boykottaufrufe gegen den Staat Israel? Warum benutzt sie offenkundige Propagandaformeln wie „Apartheidstaat“, die sie beim bloßen Nachschlagen in wikipedia als solche hätte entlarven können? Wieso haben Linke und Palästinenser in ihren Augen Glaubwürdigkeit, jüdische Israelis aber offenkundig selbst dann nicht, wenn sie der Arbeiterpartei oder anderen linken Parteien in Israel angehören? Es dürfte nur sehr wenige, wenn auch leider lautstarke und im Westen gern gehörte Israelis geben, die Ernaux‘ antiisraelischem Engagement nicht verständnislos gegenüberstünden. Was also bringt eine Frau des Wortes dazu, solche Boykott-Aufrufe zu unterschreiben, anstatt Wahrhaftigkeit, Faktizität und Legitimität solcher antisemitischen und antiisraelischen Kampagnen zu überprüfen?
Ja, die „Ottonormalverbraucher“ unter den palästinensischen Arabern, deren Vorfahren es 1947 ablehnten, einen zweiten arabisch-palästinensischen Staat neben dem jüdischen und neben Jordanien zu errichten und statt dessen gemeinsam mit den Arabern der Region einen Krieg vom Zaun zu brechen, den sie verloren, sind arm dran. Doch dafür können die jüdischen Israelis und die Juden weltweit nichts. Die Funktionäre der arabisch-palästinensischen Nationalbewegung waren und sind niemals arm, sondern vermögend und manchmal stinkreich. Ihnen die Gefolgschaft aufzukündigen, haben diejenigen, die von ihnen bestenfalls als Verfügungs- und Verhandlungsmasse benutzt wurden, nie vermocht. Weil der Judenhass, der Grund dieses Konflikts ist, eine derart lebensfeindliche Bindungskraft entfaltet, dass viele, wenn nicht die meisten von ihnen darüber hinwegsehen, dass sie sich selber deshalb aller Chancen auf Entfaltung und Entwicklung im Leben berauben.
Und Annie Ernaux? Macht bei diesem üblen Selbsttäuschungsmanöver auch noch kräftig mit. Klar, der Judenhass steckt in den modernen Ideologien. Man bekommt ihn praktisch frei Haus mitgeliefert. Doch dafür, welchem ideologischen Unsinn man anhängt, ist man mit dem Erlangen der Volljährigkeit selbst verantwortlich. Und es gibt in Frankreich genügend Intellektuelle, jüdische wie nichtjüdische, die sie in den letzten vierzig, fünfzig Jahren hätte konsultieren können. Die vielen antisemitischen Morde seit dem Fall von Ilan Halimi im Jahr 2006 in Frankreich lassen kein Pardon für Frau Ernaux zu!
Und auch nicht für das Nobelpreiskomitee, das von Ernaux‘ antisemitischem Engagement mit Sicherheit wusste. Es war ihm egal. In Sachen Antisemitismus sind wir auf dem Niveau der Zwischenkriegszeitangelangt.