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Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen

Neuerdings ist häufiger von „Pogromen“ die Rede, die es im wiedervereinten Deutschland gegen Ausländer gegeben hat. Tatsächlich gab es exakt zwei pogromartige Ausschreitungen, die sich über mehrere Tage hinzogen: im September 1991 in Hoyerswerda und im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Beide richteten sich gegen ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam, Angola und Mocambique. Hasserfüllte Jugendliche und junge Erwachsene, darunter Rechtsextreme, warfen Steine und Brandsätze auf die von Vertragsarbeitern bewohnten Häuser, während ein Teil der Anwohner und Zugereiste einen applaudierenden Aktionsraum bildeten, der mit „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“-Gebrüll Zustimmung bekundete und die Gewalttäter anfeuerte. Am hellichten Tag und vor laufenden Fernsehkameras. Rassismus spielte eine Rolle, erklärt aber nichts. Die Überforderung und das Versagen von Behörden, Polizei und Justiz im Vorfeld und während, aber auch nach den Ausschreitungen stellten einen wichtigeren Faktor dar. Hinzu kamen die Nachwirkungen der autoritären Strukturen in der ehemaligen DDR und die kollektive Generalentlastung der Ostdeutschen nach 1945, die die individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Zeit verhindert hatte. Dagegen kann man Arbeitslosigkeit, soziale Unwägbarkeiten, Ungewissheiten und Unsicherheiten über die persönlichen Perspektiven etc.pp nicht in Anschlag bringen, da sie anderswo nicht zu solchen Exzessen führten. Etwas Vergleichbares hat es weder davor noch danach im Osten oder im Westen der Republik gegeben, auch wenn die rechtsextremen Morde und tödlichen Hetzjagden zahlreich gewesen sind.

Die mörderischen Brandanschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993, die gezielt gegen türkischstämmige Einwanderer und ihre Kinder gerichtet waren, wurden im Gegensatz zu Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen nachts von zwei bis vier rechtsextremen Tätern verübt, im Schutz der Dunkelheit, weil sich die Täter der Akzeptanz durch das Umfeld nicht sicher sein konnten. In der Tat waren die Möllner und Solinger Bürger und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit empört, gab es weder Beifallsbekundungen noch Verständnis für die Täter. Das ist ein zentraler Unterschied zu den pogromartigen Ausschreitungen. Ich stelle nicht in Abrede, dass Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen die Rechtsextremisten im Westen womöglich inspirierten und unter Zugzwang setzten. Doch in Mölln und Solingen gab es Mordanschläge, keine Pogrome. Rassismus war auch in Mölln und Solingen im Spiel. Aber er wurde öffentlich nicht geteilt. Gleiches gilt für die Morde in Hanau im Februar 2020. Die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) sind noch einmal eine Geschichte für sich. Warum?

Das gesellschaftliche Klima im Osten während der 1990er Jahre war mancherorts beklemmend. Ich erinnere mich an eine Podiumsveranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Thema „rechtsextreme Gewalt“ im thüringischen Rudolstadt/Saalfeld 1997, zu welcher ich mit dem Rechtsextremismusforscher Bernd Wagner und zwei Kolleginnen aus Leipzig gefahren war. Sie konnte nur unter Polizeischutz stattfinden. Ganz vorn im Saal saßen die lokalen Honoratioren vom stellvertretenden Bürgermeister über den Sozialdezernenten bis hin zum Polizeipräsidenten der Region, die alle schwiegen. Dahinter kam ein unentschiedenes Mittelfeld, von dem man nicht wissen konnte, in welche Richtung es sich neigen würde, wenn es darauf ankäme. Spürbar waren Hilflosigkeit und Angst. Im hinteren Drittel des Saals rumorten all diejenigen, die nicht nur viel Verständnis für rechtsextreme Jugendliche hatten und für die man schon zu den Linken gehörte, wenn man bloß nicht rechts war. Die letzten zwei, drei Reihen besetzte die örtliche Politprominenz des „Thüringer Heimatschutzes“, eines regionalen Zusammenschlusses rechtsextremer Kameradschaften mit Verbindungen zur NPD. Die Luft im Saal war zum Schneiden dick. Voll angespannter Erwartung. Angereichert mit Hass, Verachtung, Groll und der via Mimik und Körpersprache signalisierten Bereitschaft, sich Gesichter zu merken und zuzuschlagen, wenn der Zeitpunkt günstiger sein würde. Vorn auf dem Podium sprachen unter anderem ein schweißgebadeter Sozialpädagoge aus Jena, dessen Hände zitterten, sichtlich bemüht, jedes seiner Worte abzuwägen, und Bernd Wagner, der auch dann noch scharf Paroli bieten konnte, als der Neonazi André Kapke https://de.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Kapke ihn verbal anging, denn wir fuhren ja, anders als der Sozialpädagoge und die Zuhörerschaft, die nicht rechtsextrem war, anschließend zurück nach Berlin. Ans Saalmikrofon traten nur Leute, die sich als Mütter oder Väter „so genannter rechter Jugendlicher“ vorstellten, ihre Sprößlinge in Schutz nahmen, weil die wenigstens anständig angezogen und auch sonst für Ordnung wären. Auf Anraten des Polizeipräsidenten, der uns nicht schützen konnte, brachen wir sofort nach Ende der Veranstaltung auf, bis zum Ortsausgang eskortiert von einem Polizeiwagen. Jungs im Alter von vielleicht 11, 12 Jahren zeigten uns den Mittelfinger und schrien uns Beschimpfungen hinterher. Das war die Atmosphäre, in der das NSU-Trio wachsen und gedeihen konnte, das in den Nullerjahren türkische und griechische Einwanderer mordend durchs Land zog. Auch wenn es am Ende keinen Unterschied macht, ob Menschen sterben müssen, weil ihr Tod durch einen Brand- oder Nagelbombenanschlag billigend in Kauf genommen wird, oder ob sie aus unmittelbarer Nähe erschossen werden, so gehören doch zu letzterem neben Grausamkeit auch Planung und Logistik, die ein bundesweites Netzwerk erfordern, das engmaschig geknüpft sein muss und dicht hält. Das ist seither bei vielen rechtsextremen Mordanschlägen der Fall gewesen. Erinnert sei nur der Mord an Walter Lübcke. Das Beispiel seines Mörders zeigt, dass sich rechtsextreme Vorstellungswelten selbst dann nicht verwachsen und verflüchtigen, wenn ihre Verfechter später eine Familie gründen und ein geregeltes Leben führen. Das muss man mitbedenken. Als die NSU-Mordserie und ihre Täter 2011 bekannt wurden, wunderte sich keiner meiner früheren Kollegen. Wir hatten schon Ende der 1990er Jahre spekuliert, dass so etwas wie eine Braune Armee Fraktion im Entstehen begriffen sein könnte. Fassungslos hat mich deshalb nicht die Existenz des NSU und die Tatsache seiner Mordserie gemacht, die zu verhindern gewesen wäre, sondern die Art und Weise, wie die Polizei, die Ermittlungsbehörden und der Verfassungsschutz damit umgegangen sind. Veranstaltungen wie jene in Rudolstadt/Saalfeld habe ich in dieser extremen Form im Osten übrigens sonst nicht erlebt. Dort verliefen damals öffentliche Diskussionsrunden, Podiumsgespräche oder Aussprachen aber auf ihre Weise immer bedrückend, weil es oft wenig Distanz zu rechtsextremen Gewalttätern gab und selten die Bereitschaft, Verantwortung für das gesellschaftliche Klima unmittelbar vor Ort zu übernehmen. Das hat sich inzwischen glücklicherweise geändert. Mit den Wort „Baseballschlägerjahre“ ist das damalige Phänomen nicht erfasst.

Dass gerade die Höcke-AfD in Thüringen so fest im Sattel sitzt, gründet auch und vielleicht sogar vor allem, aber nicht nur in jener Zeit. Das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“, das die Bundesregierung zwischen Anfang und Mitte der 1990er Jahre aufgelegt hatte, half entgegen der Absicht und den Zielsetzungen seiner Initiatoren der rechtsextremen Szene, sich lokal noch besser einzunisten. Das miterlebt zu haben, hat mich skeptisch gegenüber staatlich aufgelegten Großprogrammen werden lassen. Ich bin nicht gegen die staatliche Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen. Aber sie müssen beständig evaluiert werden und sich vor allem immer wieder öffentlicher Kritik stellen. Es gilt auch, Monopolisten zu verhindern. Oft verstetigen sie das Problem, das zu beheben sie einst angetreten sind. Zum einen, weil sich das manchmal als flexibler erweist als die Instanz, die sich fortgesetzt als seine Lösung empfiehlt. Zum anderen, weil sich unweigerlich radikalisiert, wer erfolgreich war, aber die Anstrengung scheut, neu und anders anzusetzen.