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Christliche Werte als Grundlage moderner Ethik? Sicher nicht!

Wie ich von Muslimen und denen, die mit ihnen eng zusammenarbeiten weiß, überwiegt bei vielen Islamisten die Angst davor, nach dem Tod in der Hölle zu landen, das Bedürfnis, ins Paradies zu gelangen. Christen dürfte diese Angst vor dem Höllentod bekannt vorkommen, auch wenn Kirchenvertreter und Theologen seit Jahrzehnten nicht mehr mit Hölle oder Paradies argumentieren, um ihren Moralvorstellungen Gehör zu verschaffen oder sie gesellschaftlich durchzusetzen. Die Berichterstattung über den verlogenen Umgang vieler Kirchenvertreter mit sexualisierter Gewalt in den öffentlich-rechtlichen Medien lässt nichts zu wünschen übrig, ist eindeutig, klar und unmissverständlich. Warum über den Islam, besonders den politischen, nicht in gleicher Weise kritisch berichtet wird, wieso die Übersexualisierung, die Frauenverachtung und Körperfeindlichkeit der katholischen Kirche ein Thema sind, nicht aber die haargenau gleichen Phänomene im Islam, bleibt das Geheimnis der öffentlich-rechtlichen Redaktionen. Es ist ebenso fatal wie die „gruppenbezogene“ Viktimisierung von Muslimen in westlichen Gesellschaften.

Irrtümlich wird der Begriff der Menschenwürde gelegentlich auf die abendländisch-christliche Tradition zurückgeführt. Doch die gleichnishafte Ähnlichkeit des Menschen mit dem biblischen Schöpfergott, auf welche der erste Grundgesetzartikel von der Unantastbarkeit der Menschenwürde unter anderem zurückgeht, entstammt dem ersten Genesis-Kapitel der Tora, ist demnach so wenig christlich wie der Dekalog. Es sind der neuzeitliche Humanismus und die europäische Aufklärung, die die Werte, auf denen unser Grundgesetz und unsere moderne Ethik fußen, wesentlich bestimmen.

Mit christlichen Werten – Glaube, Liebe, Hoffnung – haben unsere Demokratie und unser Rechtsstaat wenig zu schaffen. Und mit christlicher Moral schon gleich gar nichts. David Finchers düster-pessimistischer Film „Seven“ (1995) gehört zu den eindrücklichsten Thrillern der neunziger Jahre, die ich im visuellen Gedächtnis behalten habe. Ein Serienkiller ermordet sieben Menschen, weil sie sich in seinen Augen einer der sieben Todsünden schuldig gemacht haben: Hochmut, Völlerei bzw. Maßlosigkeit, Wollust, Habgier, Neid, Trägheit und Zorn bzw. Rache. Versteht sich, dass Untugenden wie Eitelkeit, Verschwendungssucht, Geiz etc eng mit ihnen verknüpft oder in ihnen enthalten sind. Der kurz vor seiner Pensionierung stehende Detective Somerset (Morgan Freeman) und der junge Detective David Mills (Brad Pitt) müssen Morde aufklären, die, wie sich bald herausstellt, vom gleichen Täter John Doe (Kevin Spacey) begangen werden und miteinander in Verbindung stehen. Der Killer will aber nicht bloß Sünder bestrafen, sondern die Welt als nicht lebenswerten Ort entlarven, von dem man sich ob seiner unentrinnbaren Sündhaftigkeit angewidert abwenden müsste.

Die totalitäre Logik des christlich-fundamentalistischen Killers besteht darin, noch die rechtsstaatliche Instanz der Polizei als rachsüchtig bloßzustellen, indem er aus Neid die schwangere Frau des jungen Detective ermordet, der ihn – wie von Doe kalkuliert – daraufhin erschießt. Vergeblich hatte Detective Somerset – der den Plan des Killers durchschaut – versucht, seinen Kollegen von diesem Akt der Selbstjustiz abzuhalten. Somersets Fazit nach jahrzehntelanger Polizeiarbeit ist ebenso weise wie nüchtern-realistisch: Es geht nicht darum, die Welt von Sünden zu säubern, von Bösem zu reinigen, vom Verbrechen zu befreien, sondern darum, auch dann um die Welt zu kämpfen, wenn sie eine Zumutung, eine schlechte und alles andere als gottgefällige und ideale ist. Vorzugsweise mit rechtsstaatlichen Mitteln.