Die Opfer von 9/11 sind die Menschen, die durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ermordet oder verletzt wurden, ferner all diejenigen, die später an den Folgen des Anschlags starben, sprich: überlebende Opfer – man denke an Marcy Borders, die einem der einsturzgefährdeten Türme staubbedeckt entkam und später an Krebs gestorben ist -, Feuerwehrleute, Polizisten, Rettungskräfte, Helfer etc.pp George W. Bush, damaliger US-Präsident, besuchte am 17. September 2001 eine Moschee, verurteilte Übergriffe auf Muslime, die es infolge des Terroranschlags in den Staaten gegeben hatte, appellierte an die Amerikanerinnen und Amerikaner, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, so, wie er selbst es tat, und rief zur Toleranz gegenüber US-amerikanischen Muslimen auf. Wie immer man Bushs Politik im Nachgang des 11. September beurteilen mag, mangelnde Klarheit in Sachen religiöser Toleranz wird man ihm nicht attestieren können. Unbestritten bleibt, dass 9/11 Argwohn gegenüber dem Islam in westlichen Gesellschaften bestärkt oder ausgelöst hat, die viele Muslime zu Recht als unangenehm empfanden. Ebenso unbestreitbar ist aber auch, dass Muslime keineswegs pauschal einem „Generalverdacht“ ausgesetzt worden wären, dem sie sich nicht entziehen hätten können. Denn erstens ist das vielen gelungen und zweitens standen die meisten muslimischen Nachbarn hierzulande nie unter dem Verdacht, Terroristen oder beinharte islamische Fundamentalisten zu sein. Von den Terroranschlägen erfuhr ich am 11. September 2001 übrigens von meinen damaligen muslimischen Nachbarn, die mir am frühen Abend beim Einkaufen entsetzt davon berichteten. Und dies nicht, weil sie fürchteten, ich könnte sie künftig beargwöhnen – so narzisstisch waren sie nicht -, sondern weil sie genauso schockiert waren wie der Rest der Welt.
Die Philosophin Cinzia Sciuto streift in ihrem Buch über die „Fallen des Multikulturalismus“ am Rand die Frage, ob Muslime sich vom islamistischen Terror lautstark distanzieren sollten, müssten oder könnten, weil oder obwohl sie mit ihm nichts zu tun haben. Sciuto wirft ihre Herkunft aus Sizilien in die Waagschale. Sich als Sizilianerin vernehmlich von der Mafia zu distanzieren, habe für sie bedeutet, all diejenigen Sizilianer zu unterstützen, die sich der Mafia offensiv entgegenstellen, und zu verhindern, als vermeintlich stumme Befürworterin in Mithaft genommen werden zu können. Sciuto eröffnet keine Analogie, die schnell schief würde. Sie verdeutlicht vielmehr, wie man individuell reagieren kann, wenn man qua Geburt zu einer Gruppe gehört, von welcher ein Teil etwas tut oder gutheißt, das man selber entschieden ablehnt. Sollten sich also die im Westen lebenden Muslime vom islamistischen Terror distanzieren? Ja, meint Sciuto. Ich würde hinzufügen, dass viele von ihnen dies auch taten. Meist eher beiläufig und unaufgeregt durch die Art und Weise, wie sie mit 9/11 und den späteren Terroranschlägen in Europa umgingen, einige durch ihre offensive Auseinandersetzung mit dem Islamismus und dem Islam, andere dadurch, dass sie ihre säkulare Lebensweise offensiv verteidigten. Gegen den politischen Islam und gegen deutsche Politiker und Beamte, die ihn seit Jahren schönreden und bagatellisieren.
Zu denen, die öffentlich ihre Stimmen als Religionskritiker, als Bürger- und Menschenrechtler, als Publizisten, als Journalisten, als Wissenschaftler, als Theologen hierzulande erhoben haben, zählen Bassam Tibi, Lale Akgün, Necla Kelek, Seyran Ates, Mina Ahadi, Güner Yasemin Balci, Ralph Ghadban, Hamed Abdel-Samad, Ahmad Mansour, Abdel-Hakim Ourghi, Mouhanad Khorchide und in jüngerer Zeit Naila Chikhi oder Fatma Keser, um nur einige zu nennen. Sie alle sind denkbar verschieden, haben unterschiedliche Herkünfte, manchmal konträre Positionen und voneinander teilweise enorm abweichende Überzeugungen. Was sie eint, ist ihre unablässige Verurteilung von Salafismus, Dschihadismus, Muslimbrüdern, kurzum des Islamismus in allen seinen Spielarten, seien sie terroristisch oder seien sie legalistisch, also ohne Gewalt wie bei vielen Islamverbänden. Deshalb „genießen „einige der oben genannten Stimmen Personenschutz, was ihren Alltag erheblich einschränkt. Dabei greifen sie weder Muslime noch den Islam als solchen an. Ihr Kampf gilt dem politischen Islam. In der Bundesrepublik zählen zu dieser legalistischen Variante des islamischen Fundamentalismus viele der Islamverbände, die in den vergangenen 15 Jahren auf Bundes- und Länderebene offizielle Partner des Staates geworden sind. Es waren demokratisch legitimierte Politiker, die dem politischen Islam die Einflusssphären verschafften, über die er heute verfügt. (vgl. https://literaturkritik.de/schroeter-politischer-islam-kein-kotau-vor-islamisten,27236.html)
Die im Jahr 2006 von Wolfgang Schäuble ins Leben gerufene Deutsche Islamkonferenz hat die Muslime inzwischen in eine Sackgasse gelotst. Denn die meisten in der Bundesrepublik lebenden Muslime sind nicht organisiert. Die Islamverbände repräsentieren nur einen überschaubaren Bruchteil muslimischen Lebens, genauer gesagt den des Verbändeislams. Von Anfang an kritisierten Einzelpersönlichkeiten, die ergänzend zur Islamkonferenz geladen wurden, die konservative und islamistische Ausrichtung jener Verbände, die das Konferenzgeschehen bestimmen. Anstatt – wie von den Konferenzveranstaltern vorgesehen – einem europäisierten Islam den Weg zu ebnen, wurde der Islamismus etabliert. Islamverbände mit Integrationsaufgaben zu betrauen, heißt, junge Muslime aus der bundesdeutschen Gesellschaft zu katapultieren, anstatt sie in sie einzuführen.
Ein Beispiel dafür, wie der staatlich geförderte Verbändeislam junge Menschen radikalisiert, bietet die Geschichte von Nemi El-Hassan. Der WDR hat sie kürzlich als Moderatorin für die Wissenschaftssendung „Quarks“ eingestellt, stand dafür zu Recht in der Kritik und hat deshalb davon vorläufig wieder Abstand genommen. (https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus233769164/Neue-Quarks-Moderatorin-So-holt-der-WDR-extreme-Milieus-ins-Fernsehen.html, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article233772638/Neue-Quarks-Moderatorin-Nemi-El-Hassan-Offener-Brief-an-den-WDR.html, (vgl. https://taz.de/Muslima-ueber-das-Kopftuch-Tragen/!5011223/, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/wdr-setzt-start-von-nemi-el-hassan-als-moderatorin-aus/) El-Hassan ist durch das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) an den Islam herangeführt worden. Dieses Zentrum, das vom offiziellen Stellvertreter des iranischen Mullah-Regimes geleitet und vom Verfassungsschutz beobachtet wird, gehört zum Zentralrat der Muslime (ZMD). Aus dem Umkreis des Zentrums werden die zur Zerstörung Israels aufrufenden, jährlichen Al-Quds-Demonstrationen in Berlin organisiert. El-Hassan nahm 2014 daran Teil, nachdem sie eigenem Bekunden zufolge, das Hamburger Zentrum und seine „Blaue Moschee“ für sich entdeckt und wiederholt besucht hatte.
Schon hier wird deutlich, dass sich die junge Muslimin nicht einfach mit dem Islam beschäftigt hatte, sondern einer islamistischen Ideologisierung und Radikalisierung unterzogen wurde. Zwar hat sich El-Hassan auf Druck von Medien hin von ihrer damaligen Teilnahme am Al-Quds-Marsch distanziert und sie als Fehler bezeichnet, doch ihre Begründung, sie habe sich seinerzeit für die Palästinenser einsetzen, aber nicht gegen Israel und gegen jüdische Bürger wenden wollen, zeigt, dass sie sich nicht gründlich mit den Fakten des israelisch-arabischen Konflikts auseinandergesetzt hatte. Man muss allerdings berücksichtigen, dass öffentlich-rechtliche Medien dies ebenfalls nicht immer in angemessener Weise tun. Wie also sollten junge Menschen gleich welcher Herkunft in diesem Land den Konflikt faktengerecht beurteilen und einordnen können?! Wenig wahrscheinlich ist jedoch, dass El-Hassan eine palästinensische Terrororganisation entgangen sein soll: die Gruppe „Islamischer Dschihad“.
2015 veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung ein kurzes Erklärvideo, in dem Nemi El-Hassan das islamische Konzept des „Dschihad“ erörtert und darlegt, was es für sie bedeutet:sich im Alltag anstrengen und abmühen, um bestimmte Ziele zu erreichen, freundlich zu sein, Geduld zu haben und Streit im Dialog mit Argumenten auszutragen. Islamische Gelehrte hätten diese Bedeutung des historisch buchstäblich Kriegerischen „Dschihad“ herausgearbeitet und in der islamischen Welt verbreitet. Wäre zu schön! Stimmt leider nicht. Tatsache ist, dass Islamverbände landauf, landab propagieren, „Dschihad“ bedeute „hausaufgaben machen, sein Bestes in Schule, Beruf und Studium geben etc.“ Nun wäre diese Wortumdeutung zukunftsweisend, diente sie nicht einem propagandistischen – sprich: verlogenen – Image-Making des politischen Islam in westlichen Ländern. Dabei blenden Islamverbände die aktuellen und historischen Fakten zum Konzept des „Dschihad“ kalkulliert und systematisch aus. Im Jahr 2015 fanden im Januar die Terroranschläge auf Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt, im November der Terroranschlag auf das Bataclan statt. Die Geschichte des Islam, der zunächst eine Stammesreligion gewesen ist, bestimmten anfangs Kriege im Namen Allahs: gegen polytheistische Stämme, gegen Juden, gegen Christen, später gegen vom Islam wieder abgefallene Stämme. Das Konzept des „Dschihad“ bezeichnet diese historische Praxis der Kriegführung und gewalttätigen Unterwerfung aus der Frühzeit des Islam. Für die Beurteilung, was das islamische Konzept des „Dschihad“ faktisch ausmacht, ist es unerheblich, wie Nemi El-Hassan es für ihren Hausgebrauch uminterpretiert. Als Wissenschaftsjournalistin sollte sie dies wissen. Die Bundeszentrale für politische Bildung muss sich fragen lassen, wieso sie die Inhalte, die sie verbreitet, nicht vorab auf ihre sachliche Richtigkeit überprüft.
Auch wenn das Konzept des „Dschihad“ im Laufe der Jahrhunderte an Relevanz verlor, so suchten doch lokale Eliten und einzelne islamische Gelehrte (z. B. Dschamal ad-Din al-Afghani) im 19. Jahrhundert, es im Kampf gegen europäische Kolonialmächte wieder aufleben zu lassen.
Später wurde der pakistanische Journalist Abul A’la Maududi einer der prominentesten Propagandisten des „Dschihad“ als probates Mittel im Kampf gegen die verhasste westliche Welt. In Ägypten formten Hasan al-Banna und Sayyid Qutb zuvor die Muslimbruderschaft (gegründet 1928). Ein früher Anführer der palästinensischen Nationalbewegung war Haj Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem, der enge Verbindungen zur Muslimbruderschaft pflegte. Er kann als Palästinas erster Islamist gelten. Es war der Mufti, der den antizionistischen Kampf mit dem Kampf gegen die britische Mandatsmacht in Palästina verband und internationalisierte. Zu den vielen Ablegern der Muslimbrüder zählt heute die Terrororganisation Hamas (gegründet 1987). Ihre ältere Bruderorganisation, die schiitische, vom Iran finanzierte Terrormiliz Hisbollah (gegründet 1982) gibt im Islamischen Zentrum Hamburg unter anderen den Ton an. Gewiss, sowohl Hamas als auch Hisbollah verfügen über einen „zivilen“, politischen Arm. Da beide ihre Ziele – vor allem die Errichtung eines Gottesstaates – aber nur mit Drohungen, Einschüchterungen, Erpressungen, Gewalt und Totschlag durchsetzen können, also mit dem Mittel des „Dschihad“, ist dieser Umstand faktisch bedeutungslos.
Die Erzählung, Muslime seien in westlichen Gesellschaften seit 9/11 andauernden, massiven rassistischen und „islamophoben“ Angriffen ausgesetzt, ist eine islamistische. Die Tatsache, dass manche Politiker und einige Journalisten – selbst in öffentlich-rechtlichen Medien – diese Legende nachbeten, spricht für den Erfolg der islamistischen Strategie. Es gibt Islamfeindschaft, gar keine Frage. In Deutschland geht sie vor allem von der AfD und von Rechtsextremisten aus. Das ist aber kein Grund, in Abrede zu stellen, dass der Dschihadismus und der politische Islam ein wenigstens ebenso ernsthaftes wie bearbeitungsbedürftiges Problem darstellt.
Es geht im Fall von Nemi El-Hassan weder um eine verzeihliche Jugendsünde noch um gelegentliche ideologische Aussetzer, die sich leicht korrigieren ließen. Es geht erstens um den inzwischen erlangten Einfluss des politischen Islam auf junge Menschen. Die verheerende Fehlentscheidung, die Integrationsarbeit in die Hände von Islamverbänden zu legen, sollte schnellstmöglich revidiert werden. Es geht zweitens um die Kriterien, nach welchen öffentlich-rechtliche Sender ihr Personal auswählen. Das Erklärvideo zum „Dschihad“ ist keine Empfehlung für den Job einer Wissenschaftsjournalistin. Nicht nur, weil die Inhalte, die darin verbreitet werden, islamistisch sind und die Fakten auf den Kopf stellen, sondern auch, weil Nemi El-Hassan all die Wissenschaftler und Publizisten als „selbsternannte Propheten“ verhöhnt, die das islamische Konzept „Dschihad“ sachkundig und faktentreu dargestellt haben. Man kann sich auch als Medizinerin Wissen über den Islam und andere Sachgebiete aneignen und erschließen, schon klar. Nur stellt man dann gewöhnlich nicht aus ideologischen Gründen in Abrede, was Generationen fachkundiger Leute als Tatsachenwahrheit anerkannt haben. Dass Nemi El-Hassan heute kein Kopftuch mehr trägt und sich im Dresscode dem mainstream angepasst hat, ist kein Beleg dafür, dass sie das „innere Tuch“ abgelegt hätte und mit ihm die islamistische Gefühls- und Gedankenwelt. Antisemitismus ist wiederum einer ihrer zentralen Bestandteile. All das wächst sich nicht einfach aus. Und an Lippenbekenntnissen war die Bundesrepublik noch nie arm.