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Konservativ? Progressiv? Mumpitz!

Nichts sagt heute weniger über die beiden Adjektive „konservativ“ und „progressiv“ aus, als ihr unüberlegter Gebrauch. Wer mit den „Konservativen“ gemeint sein soll und welche Gesellschaftsvorstellungen genau sie vertreten sollen, ist mir nicht recht klar. Die CDU/CSU und ihre Wählerschaft? Bleiches gilt für die „Progressiven“. SPD, Grüne, die LINKE und ihre Wählerschaft?
Gesellschaftspolitisch halten sich letztere vermutlich für die Vertreter allerneuester ideologischer Trends und dann wäre „progressiv“ nichts weiter als der letzte modische Schrei. Da sich Moden bekanntlich manchmal in leichter, manchmal in einschneidender Abwandlung wiederholen, ist das Neueste gelegentlich das Älteste und vice versa. Mag John Rawls Vorstellung von Gerechtigkeit einen rechtsstaatlich fundierten und darum liberalen, hautfarben- und herkunftsunabhängigen Egalitarismus als politische Theorie vorgestellt haben, so war es nicht weniger als der rechtliche Rahmen moderner Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg. Keine Theorie also, kein rein akademisches Koloquium. Dass Rawls Gesellschaftsentwurf weiterentwickelt werden muss, weil er naturgemäß keine Antworten auf Fragen der Tagespolitik bieten kann und fünfzig Jahre später sicher nicht mehr den gleichen Charme versprüht wie zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung, versteht sich von selbst. Dass jedoch ein an Marx orientierter, antiimperialistischer und antiwestlicher Gegenentwurf, der heute als kollektivistische Identitätspolitik kritisiert wird, besser auf das tagesaktuelle Geschehen reagieren würde und die Fragen der Gegenwart und näheren Zukunft besser klären könnte, ist Aberglaube und alles andere als progressiv! Gewiss, die Leute, die das – wohlgemerkt – im Westen in den 60er und 70er Jahren propagierten und sich bis heute nichts Neues einfallen lassen haben, waren damals erstens jung und griffen zweitens auf Kategorien und Denkmuster des 19. Jahrhunderts zurück, die schon völlig überholt waren, als die damals Jungen sie wie ein vermeintlich neues Werkzeug auspackten. Es war damals und ist heute ein vergiftetes Ostpaket! Die Kategorien und Parolen ähnelten haargenau der antiwestlichen Propaganda des Ostblocks gegen den angeblichen Imperialismus, Kolonialismus, Kapitalismus und die vermeintliche Kriegstreiberei des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg. (Im Übrigen war es die Sowjetunion, die die Kriege in Vietnam und Afghanistan angezettelt hatte.) Die Ähnlichkeit im Denken der Jungrevolutionäre im Westen mit der Ostblockpropaganda war kein Zufall, denn die jungen Leute im Westen stellten weder Analysen der Gesellschaften an, in denen sie lebten, noch derjenigen, im globalen Süden, mit denen sie eine Solidarisierung einforderten.

Es stimmt ja nicht, dass der Ost-West-Konflikt 1989 global gelöst worden sei – das trifft nur für Europa zu – und das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle plötzlich an seine Stelle getreten sei. Wir haben auch in Europa ein Wohlstandsgefälle! Dieses Problem zu lösen, sollte ziemlich weit oben auf der Agenda stehen. Mit Putins Russland, China und Nordkorea haben wir nach wie vor auf Staatskapitalismus oder -sozialismus setzende global agierende Akteure. Der globale Süden – auf der Südhalbkugel liegen by the way auch Australien und Neuseeland -, der sich früher entlang der Blockkonfrontation aufspaltete, ist heute ein sehr heterogenes Feld. China schläft in diesen Gebieten nicht. Es stimmt auch nicht, dass der politische Islam und der islamische Terrorismus erst in den 90er Jahren Gestalt annahm. Beides wurde seit Ende der 70er Jahre zum Problem.

Heute sind die Fragen, die die Menschen in den westlichen Gesellschaften umtreiben, die nach existenzsichernden Einkommen, nach bezahlbaren Mieten, nach Rentensicherung, nach Pflegesicherung, nach Umweltschutz etc.pp Und das sind Fragen, die unabhängig von Hautfarbe und Herkunft viele Menschen beschäftigen. Es herrscht Fachkräftemangel und wir benötigen endlich ein Einwanderungsgesetz. Die soziale Mobilität funktioniert nicht mehr so wie in den 70er und 80er Jahren. Mit „konservativ“ und „progressiv“ hat das alles nicht das Geringste zu tun. Wäre besser, wir schauen uns die Vorschläge der demokratisch legitimierten Akteure genauer an und meiden nichtssagende Worthülsen, die niemanden weiterbringen, am wenigsten in den Diskussionen.