Seit heute Morgen vermelden die Nachrichten, dass die Bundesrepublik den Völkermord an den Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen zwischen 1904 und 1908 nach fünfjährigen Verhandlungen mit dem Staat Namibia und Vertretern der Herero und Nama offiziell als das anerkennt, was er gewesen ist. Es wird Wiedergutmachungsleistungen geben. Das ist ein erster Schritt. Gemeinsame Projekte in beiden Staaten müssen folgen. Warum hat es so lange gebraucht, bevor Deutschland diesen Schritt ging?
Den Straftatbestand des Völkermords gibt es im Völkerrecht erst seit 1948. Der Jurist Raphael Lemkin (https://de.wikipedia.org/wiki/Raphael_Lemkin) hat den Begriff „Genozid“ eingeführt und 1947 eine entsprechende Gesetzesvorlage für die UNO erarbeitet. 1948 haben die Vereinten Nationen die Völkermord-Konvention verabschiedet (https://de.wikipedia.org/wiki/Konvention_%C3%BCber_die_Verh%C3%BCtung_und_Bestrafung_des_V%C3%B6lkermordes). Jahrzehntelang weigerten sich die wechselnden Bundesregierungen, den Völkermord an den Herero und Nama als solchen – und nicht nur als grausames Kolonialmassaker – zu bezeichnen. Dies manchmal mit dem Hinweis, dass man kein historisches Verbrechen vor dem Zeitpunkt seiner Völkerrechts-Definition als Genozid anerkennen könne. Das ist Unsinn. Denn auch der Völkermord an den Armeniern (1915 – 1917), der Völkermord an den europäischen Juden (1941 – 1945) und der Völkermord an Roma und Sinti (1942 – 1945) lagen zeitlich vor der Völkermord-Konvention von 1948. Zwar ist die Bestimmung dessen, was juristisch als Völkermord gelten kann und was nicht, relativ klar – grausame Massenmorde zählen als solche nicht dazu -, aber es gibt in einigen Fällen Diskussionsbedarf. Die auf eine ‚rassische‘, ethnische oder religiöse Gruppe bezogene Vernichtungsabsicht muss nachweisbar sein.
Genozide unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander. Die Genozidforschung muss klären, wie sie jeweils zustandekamen, wer als Täter an ihnen beteiligt gewesen ist, wie die Täter unter welchen Bedingungen vorgegangen sind, wer die Opfer wie definierte, ob es später zu Strafverfolgungen und zur Aufarbeitung gekommen ist etc.pp Das schließt einen Opferwettbewerb ebenso aus wie moralistische Vergleiche nach Maßstäben wie ’schlimm, schlimmer, am schlimmsten, am allerschlimmsten‘.
Ich habe im Geschichtsunterricht in den achtziger Jahren an einer Leipziger Schule vom Kolonialverbrechen an den Herero und Nama gehört. Ich erinnere mich nicht, ob der Geschichtslehrer von „Völkermord“ gesprochen hatte und bezweifle das. Sicher ist, dass wir über den kolonialen Massenmord erfuhren. Uwe Timms Roman „Morenga“ (1978), der das Kolonialverbrechen literarisch verarbeitet hatte, las ich erst in den neunziger Jahren. Debatten darüber, ob dieser Völkermord mit der Shoa in irgendeinem Kausalverhältnis oder in irgendeiner anderen sachlichen Beziehung steht und ihr nicht einfach nur vorausging, halte ich für wenig ergiebig. Was genau sollte von der Behandlung und Beantwortung solcher Fragen abhängen? Gewiss, Hannah Arendt hatte in ihrer bahnbrechenden Totalitarismus-Studie von 1951 vage Zusammenhänge zwischen Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus gesehen, ohne sie zu konkretisieren. Arendt war allerdings keine Historikerin, die Quellenstudien betrieben hätte und all das hätte adäquat einordnen können. Sie schrieb überdies zu einem Zeitpunkt, als keiner der Völkermorde aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich erforscht war. Entscheidend ist, dass es künftig wissenschaftlich fundiertes Material für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit geben wird. Genügend Studien zum Genozid an den Herero und Nama wurden inzwischen publiziert. Das Thema gehört längst auf die Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen.
Es ist kein Tag für Freudenfeiern, aber für ein langes, erleichtertes Aufatmen.