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Sehende Hände

In der „Langen Nacht“ sendete der Deutschlandfunk ausgesprochen Hörenswertes über die „Hand“ als das „Werkzeug der Werkzeuge“ in der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte. Von Handwerkern im vorindustriellen Zeitalter über herausragende Pianisten bis hin zu Bildhauern wie Auguste Rodin oder Alberto Giacometti wurden viele Gewerbe und Künste vorgestellt, in denen die kluge Koordination,  virtuose Zusammenführung und geschickte Feinabstimmung im Gebrauch der Hände klar zutage trat. Selbst Charlie Chaplins Verschwinden im industriellen Räderwerk, das den zu langsamen Fließbandmonteur in „Modern Times“ verschlingt wie ein Vakuumschlucker, kam zur Sprache. Für monotone, automatisierte Abläufe sind die feingliedrigen „Vorderläufe“ des Menschen nicht gemacht. Ich erinnere mich an die Szene, in der Charlie irregeworden aus der Fabrik auf die Straße rennt, die immer gleichen Griffbewegungen mit der Zange vollführt, um die standardisierten Schraubenmuttern festzuziehen … sogar noch an den Knöpfen der Kleidung einer erschrocken flüchtenden Passantin … Haben die Hände nichts Sinnvolles zu tun, wird der Mensch verrückt. Dass die strenge Unterscheidung zwischen Hand- und Kopfarbeit trotz Platons ständestaatlicher Aufteilung in Nähr-, Wehr- und Lehrstand nicht älter als das Industriezeitalter ist, dürfte Uhrmacher, Goldschmiede, Diamantenschleifer, überhaupt alle Arten von Feinmechanikern, Blumenbinder, Hutmacher, Instrumentenbauer, Musiker, Maler, darstellende und bildende Künstler wenig überraschen. Und doch scheinen die „wissenden Hände“ aus Richard Sennetts Studie über das Handwerk im allgemeinen Bewusstsein keine nennenswerte Größe darzustellen. Völlig zu Unrecht.

Das erste, das ich nach meiner Erblindung sehr schnell neu zu gebrauchen lernte, waren meine Hände. Genauer gesagt, ihren Tastsinn. Nein, Blinde müssen den Dampf einer Teetasse nicht sehen, um zu wissen, dass das Getränk für das Trinken in großen Schlucken zu heiß ist, so wie sie ihre Hand nicht auf eine Kochplatte legen müssen, um herauszufinden, ob sie heiß genug für den Topf ist, in den sie später auch nicht hineinzugreifen brauchen, wenn sie feststellen wollen, ob das Wasser kocht. Man spürt Wärme mit der Hand aus der Distanz und hört das sprudelnde Wasser für das Frühstücksei oder die Spaghetti. Sich ein Brot schmieren, Kartoffeln schälen, Tomaten schneiden, das T-Shirt richtig rum anziehen können Blinde, weil sie Umrisse, Oberflächen, Besteck, Nähte usw. ertasten. Blinde sehen mit den Händen. Auf der Fünf einer Telefontastatur ist ein kleiner Punkt, von dem aus sie den restlichen Ziffern- und Zeichenblock erschließen. Auf der Computertastatur sind kleine Balken, die ursprünglich für das Blindschreiben Sehender gedacht waren, und heute blinden Menschen helfen, schriftlich zu kommunizieren. Brailleschrift wird mit den Fingern gelesen. Um mich auf einem mir unbekannten Gelände zurechtzufinden, ließ mich einer meiner Lehrer ein Modell mit sämtlichen Gebäuden ertasten, das mir dann bei der Orientierung half. So ersetzen die Hände im Alltag blinder Menschen die Augen. Hände haben für sie eine kognitive Funktion. Blinde erkennen mit den Händen. Die letzte „Lange Nacht“ war exzellent, aber für mich fast ein wenig zu kurz.