Gibt es das hierzulande heute überhaupt noch? In welchem Milieu? In welcher Berufsgruppe? Stimmt, in keiner und man kann Absolventen eines Haupt- oder Realschulabschlusses mit Sicherheit nicht vorwerfen, bildungsfern zu sein, nur weil sie keinen akademischen Abschluss anstreben. Sämtliche bundesrepublikanischen Bildungsreformen zielten darauf, dass alle hier lebenden Menschen nicht nur eine Schule besuchen, sondern auch eine Ausbildung absolvieren. In der ehemaligen DDR war das nicht anders, auch wenn dort sowohl die Wahl als auch die Ausübung von Berufen eingeschränkt waren, weil die Anpassungsleistung an ein System der Unfreiheit entscheidend und alles andere nachrangig gewesen ist. Berufsverbote im Westen? Ja, aber weil die davon Betroffenen dafür warben, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, anders gesagt: die individuell verbrieften Freiheits- und Bürgerrechte abzuschaffen. Auch heute gibt es Elternhäuser, in denen Lesen, Schreiben, Rechnen, Malen, Singen, Musizieren, sportliche Bewegung im Freien – basale Kulturtechniken – keine große Bedeutung haben. Öffentliche Ganztagsschulen, Jugendfreizeitclubs, Musikschulen, Kultur- und Sportvereine etc. können gegensteuern und selbst in finanziell eingeschränkten Familien stellt das Erlernen solcher Kulturtechniken heute keine unüberwindliche Hürde mehr dar. Damit ist nicht gesagt, dass es keine Benachteiligung unter Eltern und Kindern mehr gebe. Als „bildungsfern“ kann man dieses Phänomen jedoch nicht mehr beschreiben. Es ist einzusehen, dass ein Kind aus weniger betuchten Verhältnissen Schwierigkeiten hat, ein Musikinstrument oder die nötige Sportausrüstung zu beschaffen, an Wettbewerben, Ausflügen – heute: am Digitalunterricht – teilzunehmen, zu Hause einen ungestörten, ruhigen Ort zum Üben oder für die Hausaufgaben zu finden. Hier ist nicht allein der Staat in der Pflicht, hier müssen auch die Eltern Verantwortung übernehmen. Das gilt vor allem für alltagspraktische Dinge. Als sich vor einigen Jahren eine junge Frau in der Zeitung darüber beschwerte, dass sie in der Schule zwar gelernt habe, ein Gedicht zu analysieren, aber nicht, wie sie einen Mietvertrag abschließt, ein Konto eröffnet oder eine Waschmaschine kauft, habe ich mich gefragt, wie es wohl um ihre sozialen Beziehungen zu ihren Eltern, Verwandten, Freunden und Bekannten bestellt sein mag, die ihr in solchen lebenspraktischen Fragen Tipps geben und ihr unter die Arme greifen können. Schulstoff sollte all das nicht sein. Zur Bildung gehört, gelernt zu haben, im Zweifel in Erfahrung zu bringen, „wo man geholfen wird“. Bildung ist es auch, die eigenen Grenzen zu kennen, beratungsfähig zu bleiben, aber in jedem Fall eigene Entscheidungen zu treffen, die man korrigieren muss, wenn sich herausstellt, dass man im Irrtum war, und die man aufrechterhalten muss, wenn sie sich als die richtigen erwiesen haben. Am allerwichtigsten ist es, individuell Verantwortung für das eigene Tun und Lassen zu übernehmen.
Wenn DAS Bildung ist, dann hängt sie nicht vom Erwerb akademischer Grade ab, nicht vom erlernten Beruf und auch nicht von Hautfarbe oder Herkunft. Kürzlich telefonierte ich mal wieder mit Sascha Gottschalk, dem Internetdesigner, der diesen Blog angelegt hat und betreut. „Ich hasse das Wort ‚Bildungsferne'“, sagte er. Zu Recht, finde ich.
Wissensaneignung war seit der Entstehung von Arbeiterbildungsvereinen im 19. Jahrhundert kein Privileg höherer Schichten mehr. Sie half allerdings auch nicht dabei, Menschen im 20. Jahrhundert davor zu bewahren, falschen Propheten nachzueilen, in unnötigen Kriegen, die nicht der Selbstverteidigung dienten, einander zu morden, Massaker und Völkermorde zu begehen. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt mißtraute gerade den Intellektuellen und formal Hochgebildeten, und dies nicht, weil die genauso verführbar waren wie alle anderen auch, sondern weil sie in der Regel geübter sind im Erfinden abenteuerlicher, abgehobener und verstiegener Ausflüchte, um sich vor der Verantwortung für die von ihnen getroffenen Entscheidungen zu drücken. Folgerichtig fiel Arendt in Dostojewskis „Brüdern Karamasow“ gerade jene Textstelle auf, in welcher der alte Karamasow darüber belehrt wird, dass er mit dem Selbstbetrug und den Lebenslügen aufhören müsse, wenn er – modern gesprochen – Ruhe finden will. Es gibt eine weitere prägnante Textpassage: Iwan Karamasow erzählt seinem hochmoralischen, dem Klosterleben geweihten Bruder Aljoscha von Grausamkeiten, die das Militär unter anderem an Kindern begangen hat, und fragt den jüngeren Bruder anschließend, was mit dem Peiniger zu tun sei: „Erschießen“, antwortet Aljoscha. Impulse wie diese mögen im Einzelfall nachvollziehbar sein, in einem Rechtsstaat sind sie nicht akzeptabel. Deutlich wird, dass Iwan seinen Bruder durch das Erzählen von Geschichten manipuliert, an sein sehr irdisches Strafbedürfnis appelliert, Rachegefühle erzeugt und die Moral Aljoschas bloßstellt, der schönen Seele im Roman. Moralischer Rigorismus macht die Welt nicht weniger grausam und allein die Erziehung zur Empathie auch nicht besser. Herzensbildung reicht nicht, auch wenn es ohne sie nicht geht. (Weil wir gerade der Opfer der Shoa gedacht haben: Eine bestimmte, auf die eigene „Rasse“ und „Volksgemeinschaft“ reduzierte Moral war den Nazis ebenfalls zu eigen und weil sie das Judentum ganz in der christlich-abendländischen Tradition als das absolut Böse darstellten, fiel es ihnen nicht schwer, zunächst die rechtliche Diskriminierung und Verfolgung von Juden plausibel und akzeptabel erscheinen zu lassen und später ihre Ermordung durchzusetzen. Das war keine Frage formaler Bildung oder Intelligenz, denn viele Nazis verfügten über Universitätsabschlüsse, Doktorgrade und Berufsausbildungen.)
Heute ist Bildung neben dem individuellen Übernehmen von Verantwortung auch die Fähigkeit, erworbenes Wissen und die vielen Informationen, die uns tagtäglich erreichen, überprüfen, einschätzen, einordnen, korrigieren, verwerfen oder erweitern zu können. Die social media-Kanäle vervielfachen weitgehend unkontrolliert diese Informationsflut. Doch nicht sie, sondern der Umgang damit scheint mir das Problem zu sein. Etablierte Medien haben ihre gatekeeper-Funktion eingebüßt und teilweise ihre Glaubwürdigkeit verloren, wobei sie ersteres nicht beeinflussen konnten, für letzteres aber mitverantwortlich sind. Denn statt sachlich, unparteiisch, unvoreingenommen und mit der gebotenen Distanz Bericht zu erstatten, wechselten manche Journalisten während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 zeitweilig in die Rolle „politischer Akteure“ einer unkritischen und undifferenzierten „Willkommenskultur“, wie eine Studie des Medienwissenschaftlers Michael Haller im Auftrag der Otto Brenner Stiftung ergeben hat. Auch über die sexuelle Gewalt aus den Reihen nordafrikanischer Migranten auf Frauen in der Kölner Sylvesternacht ist in etablierten Medien mit wenigen Ausnahmen nicht ausreichend, kritisch und sachkundig informiert worden. (eine der Ausnahmen: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wie-viel-islam-steckt-im-sexuellen-uebergriff-gespraech-mit-der-islamexpertin-susanne-schroeter-14019218.html ) Was daran irritiert, ist weniger die offenkundige Selbstüberschätzung einiger Journalisten als vielmehr die merkwürdige Annahme, Leser, Hörer und Zuschauer wären außerstande, Qualität, Gründlichkeit, Färbung und Ausgewogenheit von Nachrichten, Berichten, Interviews und Kommentaren einzuschätzen. Das mag vor einem halben Jahrhundert noch anders gewesen sein, inzwischen dürften sich die Ansprüche von Medienkonsumenten diversifiziert haben und ganz allgemein gestiegen sein, während die „Bildungsferne“ immer mehr schrumpft.