Sage ich, dass ich eine entschiedene Westlerin aus dem Osten bin, schreien selbst meine engsten Freunde entrüstet auf. Sie verstehen meine Äußerung als etwas Reaktionäres, etwas Hinterwäldlerisches, als sonderbare Betonung eines Gegensatzes, der nach ihrem Empfinden irgendwo im Pleistozän beheimatet ist, aber längst nicht mehr das Heute bestimmt und auch keine Zukunft hat. Das stimmt natürlich. Und nichts Anderes hatte ich ja ausdrücken wollen: Der Osten ist passé – glücklicherweise – und jetzt sind wir alle Westler, auch dann, wenn wir im Osten geboren und aufgewachsen sind. Gewiss, es gibt noch die Jammer- und Beschwerdeecke, aus der sich Gleichaltrige wie beispielsweise Jana Hensel mit lautstarker Heulerei vernehmen lassen. Aber ist das maßgeblich? Welcher merkwürdige Phantomschmerz bricht sich da Bahn? Was war der Osten, was ist der Westen?
Der Westen ist schnell erklärt: Trennung von Staat und Religion, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Gewaltenteilung, Parlamentarismus, Regierung und Opposition, unblutige und gewaltfreie Machtwechsel durch institutionalisierte Verfahren wie Wahlen etc., Gleichberechtigung der Geschlechter, individuelle Bürger- und Freiheitsrechte, Rede-, Meinungs-, Wissenschafts-, Reisefreiheit etc., soziale Marktwirtschaft und anderes mehr. Nur diese Merkmale sichern die stete Dynamik, Innovations- und Wandlungsfähigkeit von Gesellschaften. Das zumindest sind die politischen und juristischen Aspekte des Westens, der nichts anderes als die Welt unserer liberalen Demokratien sind. Karl Poppers berühmtes Prinzip „try and error“ sichert in Variationen die so dringende Weiterentwicklung, die manchmal in einem offenen Bruch, manchmal in einer modifizierten Fortführung und manchmal im Bewahren eines Bewährten bestehen kann. Nächstens mehr.
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Über die Kategorie »Ost und West« – Sylke Kirschnick