Kürzlich erschien ein überaus lesenswerter Beitrag von Ahmad Mansour über das neue Bündnis zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein im „Tagesspiegel“ https://m.tagesspiegel.de/politik/israel-und-seine-nachbarn-der-neue-nahe-osten-warum-der-arabische-nationalismus-schwindet/26200360.html
Die Nachricht vom neuen Friedensabkommen – nach Ägypten 1979 und Jordanien 1994 – ist in Deutschland und Europa nicht so gewürdigt worden, wie sie es verdient hätte. Gut, dass es in Mansours Beitrag geschieht. Der Autor ist Psychologe und hat deshalb im Blick, was in sozial- und politikwissenschaftlichen Überlegungen meist ausgespart oder randständig bleibt : die unterschiedlichen Mentalitäten, die verschiedenen Prinzipien, nach denen die Gesellschaften in Europa und dem Nahen Osten organisiert sind und funktionieren, die Miss- und Unverständnisse, die sich daraus zwischen „Abendland“ und Morgenland“ ergeben. Letzteres sind geografische Bezeichnungen. Sie sind emotional und ideologisch weniger aufgeladen und besetzt als die Begriffe der Westen, Europa und der Orient. Das „nation building“ war in Europa ein ziemlich uneinheitlicher und langwieriger Prozess, der die alten Feudalstrukturen zugunsten parlamentarischer und rechtsstaatlicher Entscheidungsfindungen ablöste. Es war Frankreich und Großbritannien und selbst den Vereinigten Staaten, die keine Monarchie und keinen Adel kannten, nicht in die Wiege gelegt, sich zu den liberalen Demokratien zu entwickeln, zu denen sie im Verlauf der letzten 250 Jahre allmählich geworden sind. Als „Westen“ und als die Siegermächte des Ersten Weltkriegs teilten sie Europa neu auf: Staaten wie Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ungarn entstanden vor allem aus dem zerfallenen Habsburger Reich und dem deutschen Kaiserreich. Frankreich und Großbritannien teilten auch das seit dem 19. Jahrhundert schwächelnde, durch verschiedene Nationalbewegungen von Ägypten, über Griechenland bis zum Balkan ebenfalls längst angefochtene Osmanische Reich in Völkerbundmandate auf. Mit dem Ziel, unabhängige arabische Nationalstaaten zu schaffen. Ob das eine unzulässige und gewaltsame Übertragung „abendländischer“ Modelle auf das „Morgenland“ gewesen ist oder aber seit langem bestehenden arabischen Nationalbewegungen entgegenkam, sei dahingestellt. Die Golfmonarchien sind weder Republiken noch Demokratien, aber Nationalstaaten. Nationalstaatlichkeit und Nationalismus sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Nach der Unabhängigkeit Syriens, des Iraks, des Libanon, Jordaniens etc. gründeten diese mit Ägypten und den Golfmonarchien 1945 die Arabische Liga, ein Zusammenschluss zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kooperation. In diesem Rahmen waren bi- und multilaterale Neuaufteilungen, territoriale Grenzkorrekturen und strukturelle Veränderungen zwischen den einzelnen arabischen Staaten möglich. Der Kalte Krieg und die politisch-ideologische Systemkonfrontation verhinderten mit Sicherheit die eine oder andere gedeihliche Entwicklung, aber weder die Entstehung eines unabhängigen arabischen Staates Palästina neben dem jüdischen Staat Israel noch die allmähliche Demokratisierung der arabischen Nationalstaaten. In Deutschland gab es während der Weimarer Zeit starke Akteure und politische Bewegungen, die die republikanisch-demokratische Neuordnung von 1919 für unvereinbar mit der deutschen Kultur und Geschichte hielten. Sie kämpften gegen „Pöbelherrschaft“, „welsche“ Unart, für das „christliche Abendland“, für „rassische“ und „kulturelle“ Reinheit, für eine „Diktatur des Proletariats“ und ähnliches. Sie haben die instabile Demokratie schließlich niedergerungen. Die Folgen sind bekannt: die NS-Diktatur, der Zweite Weltkrieg, die Shoa, die Abermillionen Toten in Europa, in Asien, im Nordafrika. Und all das, weil zu viele Deutsche die Demokratie für unvereinbar mit „ihrer“ Kultur, „ihrer“ Geschichte oder den Gesetzen des historischen Materialismus hielten, denn die damalige Wirtschaftskrise wäre ebenso in den Griff zu bekommen gewesen wie der Versailler Vertrag hätte nachverhandelt werden können. Heute wird von linker Seite oft das wenig stichhaltige Argument vorgebracht, die Forderung nach Demokratisierung sei „Kulturimperialismus“. Auch Baschar al-Assad argumentiert gern, dass der Nahe Osten nicht zu demokratisieren sei, weil er nicht die Geschichte Europas oder Nordamerikas hat. Nun stimmt zwar letzteres, aber die Schlussfolgerung, dass Demokratisierung eine Frage determinierender Geschichte und Kultur wäre, ist falsch, was die Entwicklung in Europa mit ihren unterschiedlichen Nationalgeschichten und -kulturen belegt. Wenn ich Mansours Zeilen richtig verstanden habe, ist Demokratisierung auch in seinen Augen im Nahen Osten erforderlich. Klar, weil junge Menschen überall auf der Welt ihre Gegenwart und Zukunft mitbestimmen und mitgestalten wollen, auch wenn der arabische Frühling vorerst in einen arabischen „Winter“ mündete, wie Mansour schreibt. Das galt in der Zwischenkriegszeit auch für Europa und heute sind die jüngeren osteuropäischen Demokratien einschließlich Ostdeutschlands alles andere als Stabilitätsanker. Mansours Einwand, dass dort, wo Staatlichkeit kaum noch vorhanden ist, die Familienbande gestärkt werden, ist richtig, aber kein Plädoyer für Clanstrukturen. Denn sie verhindern – und würden das überall auf der Welt tun -, dass eine Staatlichkeit sich überhaupt etabliert und gegenüber partikularen Interessensverbänden durchsetzt. Clans sind weder einfach „Familie“ noch ein spezifisch arabisches Phänomen. Es hat sie auch in Europa gegeben. Gemeinschaftsbildende Prinzipien wie Abstammung, Verwandtschaft und Religion haben das „Abendland“ lange Zeit geprägt und nicht zu einem Hort des Friedens gemacht. Rassistische, völkische, politisch-ideologische Gesinnungsgemeinschaften haben erst spät begonnen, sie zu überlagern, teilweise zu ersetzen, teilweise zu modifizieren und auf eine andere Ebene zu verschieben. Erst im 20. Jahrhundert eröffnete das Modell liberaler Demokratien andere politische und gesellschaftliche Organisationsprinzipien und Optionen. Das hat alte Konflikte gelöst und neue geschaffen. Korruption, Vettern- und Freunderlwirtschaft, „mafiöse“ Strukturen, Seilschaften, Identitätspolitik, die das Prinzip von Religion, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht entweder mit traditionellen oder aber mit umgekehrten Vorzeichen wieder einsetzen will, Wirtschaftskriminalität etc.pp sind Schwundstufen überkommener Verbindlichkeiten, die liberalen Demokratien, dem Westen also, heute in Europa nach wie vor schwer zu schaffen machen, auch wenn es Instrumentarien gegen diese Phänomene gibt. Mansour hat Recht, wenn er sich gegen Arroganz und oberlehrerhafte Attitüden verwahrt – der vorliegende Beitrag ist im Grunde nichts anderes -, dass aber das „Abendland“ und das „Morgenland“ manchmal weniger, manchmal mehr aneinander vorbeikommunizieren, ist mit Sicherheit keine Frage unterschiedlicher Kultur und Geschichte. Denn weder das eine noch das andere determiniert Individuen so stark, dass andere Sichtweisen oder Veränderungen unmöglich wären. Es gibt im Nahen Osten Alternativen zu Koran und Kaserne, auch wenn die augenblicklich schwer auszumachen sind. Mansour nennt die wichtigsten vier Machtfaktoren und Strömungen im neuen Nahen Osten: Erdogans Türkei und die Muslimbrüder mit ihren neo-osmanischen Träumen, die Dschihadisten von Al-Kaida bis zum Islamischen Staat, der Iran und zuletzt die funktionierenden Nationalstaaten der Region. Mit Ausnahmen wie Ägypten oder Tunesien handelt es sich bei letzteren um konstitutionelle oder absolute Monarchien. Wenn diese regionalen Stabilitätsanker den Staat Israel als „Teil der Lösung“ akzeptieren, wie Mansour schreibt, ist viel gewonnen. Denn es räumt mit dem Herkunfts- und Abstammungsprinzip in den zwischenstaatlichen Bündnisstrukturen der Region weiter auf und für den Frieden in Nahost ist das ein Meilenstein. Über Demokratisierung muss man gar nicht erst zu reden anfangen, wenn jene Bedingung, der Frieden, nicht erfüllt ist.