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Gibt es eine spezielle DDR-Kultur?

Kulturell lässt sich der Osten nur schwer fassen. Politisch ist das ungleich leichter. Die vier Jahrzehnte zwischen 1948/9 und 1989, dem Jahr, in dem die staatssozialistischen Diktaturen in Europa kollabierten, haben zu viel mit der Zeit davor und danach zu tun, um kulturell eigenständig gewesen zu sein. Das bedeutet nicht, dass zum Beispiel die DDR kulturell nicht erschließbar wäre. Im Gegenteil. Nur waren diese ostdeutschen Kulturen zu heterogen, zu kleinteilig und kurzlebig, zu verwoben mit dem „Rest der Welt“, zu verflochten mit politisch-ideologischen Deutungsmustern, den von der SED und den Blockparteien gelenkten Massenorganisationen, um erhaltenswert genannt zu werden. Was vermissen manche Ostdeutsche heute? Brigadetagebücher? Langlebige Arbeitskollegien, die eine gemeinsame Freizeitgestaltung dokumentieren könnten, gibt es nicht mehr. Das hat seinen Grund im Strukturwandel der Arbeitswelt, der auch die DDR ereilt hätte, würde diese Diktatur noch existieren. Sehnt man sich nach Traditionskabinetten, die als Devotionalienecken in Schulen oder Betrieben eingerichtet wurden, um an heroisierte Gestalten und Ereignisse verklärt und fast schon religiös-andächtig zu erinnern? Fahnenappelle, Junge Pioniere, FDJ und die entsprechenden Grußformeln? Gelegentliches Schlangestehen, Warten auf schwer zu erlangende Ersatzteile, Schwierigkeiten, begehrte Bücher oder Schallplatten zu besorgen? Viele Ostdeutsche lernten, mit all dem oft pragmatisch, erfindungsreich und bisweilen pfiffig umzugehen. Aber diese Fähigkeiten entwickeln Menschen überall, wo Mangelwirtschaft herrscht, weshalb sie nicht an die DDR gebunden sind. Was immer Walter Ulbricht und die SED in den 50er/60er Jahren unter „westlicher Kultur“ und entsprechendem Lifestyle verstanden haben mögen – Jazz, Lederjacken, Petticoats, Rock’n Roll, später die Beatles, lange Haare bei Männern, Blue-Jeans, T-Shirts und Turnschuhe https://www.youtube.com/watch?v=Q55mQpAGNMc

-, die Bewunderung all dessen galt als verpönt und wurde untersagt. In den 70ern und 80ern, als Erich Honecker Regierungschef war, erstreckte sich das auf die Hippie-Mode („Gammler“), auf New Wave, Dark Wave, auf sämtliche Jugendsubkulturen von Punks über „Grufties“ bis hin zu Poppern. Weil es die Parole gab, den „Westen überholen“ zu müssen – die klassische Formel der Systemkonkurrenz -, blieb die westliche Kulturwelt die uneingestandene Norm, an der man sich unablässig zu messen versuchte, wobei man übersah, dass es die Freiheits- und Bürgerrechte sind, die den liberalen Demokratien ihre Dynamik verleihen. Natürlich hat es unterhalb des offiziellen DDR-Kulturlebens immer unangepasste, aufmüpfige, frechere Menschen, Zirkel und Szenen gegeben, die auf die staatlichen Vorgaben, Reglements und Kontrollen pfiffen, aber sie waren viel zu temporär und eingeschränkt wirksam, um als speziell ostdeutsche Kultur durchgehen zu können. In der Kunst, ganz gleich ob populäre, klassische, unterhaltende oder  ernste, ist es noch schwieriger, das spezifisch „Östliche“ zu entdecken. Manche Kompositionen und Songtexte von City, Karat, Puhdys, Pankow, Veronika Fischer etc.pp waren qualitativ herausragend, weil es sich um gute Künstler handelte, nicht weil sie aus dem Osten kamen, und das Gleiche gilt für die darstellenden und bildenden Künste. Weil Bücher, Schallplatten, Filme, Fotografien, Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, die  Laubenganghäuser oder das Hochhaus an der Weberwiese in Berlin – sie waren in der DDR einmalig – und selbst so manche aufgezeichnete Theateraufführung erhalten, zugänglich und denkmalgeschützt sind, kann von einem Verlust nicht die Rede sein. Verbanntes und Verbotenes – Filme wie „Spur der Steine“, die Lieder der Klaus Renft Combo oder die von Wolf Biermann sowie ungedruckte Manuskripte – ist heute für Ostdeutsche überhaupt erst öffentlich wahrnehmbar. Wer in den 70ern und 80ern im Westen ein Star gewesen ist, war es in den 90ern auch schon nicht mehr, hat aber oft wie viele der Stars aus dem Osten eine zunehmend älter werdende Fangemeinde. Die Alltagskultur älterer „Westdeutscher“ ist genauso entschwunden wie diejenige ihrer „östlichen“ Altersgenoss_innen, von vielen zwischenmenschlichen Beziehungen angefangen über bestimmte Moden, Marotten und Produkte bis hin zu dem, was man ernstzunehmenden Verlust nennen kann, sei es die Gesundheit, seien es vertraute Menschen, die man durch Unfalltod oder eine tödliche Krankheit verlor, sei es eine andere unverschuldete Einbuße an Lebensqualität. Was also fehlt klagenden „Ostdeutschen“? Die „Anerkennung ihrer Lebensleistung“, ihrer „Biografien“, ihrer „Lebensläufe“? Kollektiv? Erstens sind die Renten inzwischen fast angeglichen. Zweitens kann es diese Art der Anerkennung nie pauschal geben, sondern nur auf individueller Ebene und für individuell erbrachte Leistungen. Drittens stellt sich mir dabei immer wieder die Frage, woher dieses kollektive Bedürfnis nach kollektiver Anerkennung kommt. Mir ähnelt diese Forderung nach kollektiver Anerkennung zu sehr der Absolution, die Ostdeutsche von der SED-Führung pauschal und kollektiv für ihre Verstrickungen in die NS-Diktatur erhalten haben. Das angeblich so desaströse Wirken der Treuhand auf Kosten der „Ossis“ zugunsten der „Wessis“ ist eine vor allem von der LINKEN und der AfD bemühte Legende und neuerliche Lebenslüge:  https://www.deutschlandfunk.de/umstrittene-treuhand-bilanz-zwischen-dichtung-und-wahrheit.724.de.html?dram:article_id=457044.

Der von manchen Ostdeutschen kultivierte Hang zum Selbstmitleid, zum Selbstbetrug, zum Opfermythos kann nur individuell „therapiert“ werden. Einstweilen sollte die Empathie den Menschen vorbehalten bleiben, deren Leben in der DDR massiv beschädigt wurde, sei es, weil sie aus politischen Gründen verfolgt wurden, sei es, weil ihre Gesundheit hoffnungslos ruiniert wurde, weil sie als Spitzensportler unwissentlich „unterstützende Mittel“ = Dopingmittel einnahmen oder weil ihre Arbeitsbedingungen zu tödlichen Krankheiten führten. Dass Ostdeutsche nach 1989 umlernen mussten und es soziale Verwerfungen gegeben hat, ist gar nicht zu bestreiten. Aber eben auch nicht, dass der Lebensstandard Ostdeutscher heute ungleich höher ist, als vor 1989. Nicht das Land ist verschwunden, sondern der Unrechtsstaat, die Diktatur, die es umklammerte. Welche spezifisch ostdeutsche Kultur also vermissen heute manche Ostdeutsche? Die Kultur der Unfreiheit, des Kollektivismus, des Argwohns, des Misstrauens, der Lebenslügen, des neurotischen „Zwischen-den-Zeilen-Lesens“, der Entschlüsselung sprachlicher Codes etc.pp? Ich weiß es nicht. Nur, dass die individuelle Aufarbeitung der Nazidiktatur mit ihrem eliminatorischen „Erlösungsantisemitismus“ und der SED-Diktatur mit ihrem Israelhass Arbeit machen wird.