Um es vorauszuschicken: Ich spiele im Team Karl Popper, nicht im Team Jacques Derrida. Aber diesen Text fand ich lustig, weil er genau die Scharlatanerie betreibt, die er bei Derrida zu entlarven glaubt: „Mir scheint: Man kann Derrida nicht vorwerfen, dass er seine Überzeugung, Wahrheit sei immer bloß konstruiert, verheimlicht hätte.“ https://www.achgut.com/artikel/ein_blick_in_die_pfuetze_hinterm_aldi
Wenn Florian Friedman im Besitz einer Wahrheit ist, die nicht an Voraussetzungen gebunden und exakt in diesem Sinne „konstruiert“ wäre, her damit! Der Stein der Weisen wäre endlich gefunden. Die für mich unumstößliche Tatsache, dass am 11. September 2001 in New York ein islamistischer Terroranschlag mit fast 3000 Toten und um die 6000 Verletzten, also ein Massenmord stattfand, ist für mich zugleich eine Wahrheit, über die ich nicht nachdenken muss, um sie als solche erkennen zu können. Das ändert aber nichts daran, dass das erstens an Voraussetzungen gebunden ist ( ich bin von den rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen, ethischen und kulturellen Grundlagen der westlichen Zivilisation überzeugt) und dass diese Voraussetzungen zweitens nicht von allen Menschen geteilt werden. Wäre das, was ich für wahr halte, eine Naturtatsache und nicht an Bedingungen geknüpft, gäbe es überhaupt keine Islamisten, Antiimperialisten, Neo-Marxisten, Putin-Anhänger usw. Allein die unbestreitbare Tatsache, dass es solche Leute gibt, beweist, dass die Wahrheiten der westlichen Zivilisation weder absolute sein können noch dass es sie schon immer und überall gegeben hat. In exakt diesem Sinne sind diese Wahrheiten relativ und es war bislang nur im Westen möglich, das ungestraft in aller Öffentlichkeit so zu sagen und so zu schreiben. Wenn man die westliche Zivilisation behalten will, wäre es so ziemlich das Dümmste, so zu tun, als verstünde sie sich von selbst. Jede Wahrheit ist an Voraussetzungen geknüpft, eine mathematische an die Geltung der Regeln der Arithmetik und Geometrie, eine politische an die Geltung des jeweiligen politischen Systems, eine juristische an die Geltung des jeweiligen Rechtssystems etc.pp Jeder Patient ist gut beraten, bei einer medizinischen Diagnose, erst recht, wenn sie schwerwiegend ist oder einen operativen Eingriff erfordert, mindestens zwei Fachmeinungen einzuholen. Jeder gute Arzt empfiehlt ihm das auch oder sichert das von sich aus ab. Zu glauben, dass die Wahrheit griffbereit auf der Straße liegt, ist kindisch und naiv.
Ich finde Derrida langweilig, hätte aber besseres zu tun als mich über sein Denken zu ereifern. Vor dreißig Jahren habe ich einige von seinen Texten, bei weitem nicht alle gelesen. Immerhin genug, um zu wissen, dass ihm das Wort „Dekonstruktivismus“ nie im Leben über die Lippen gekommen wäre, und dass das, was den Leuten seit zwei, drei Jahrzehnten als „Dekonstruktion“ angedreht wird – auch im „Achse“-Beitrag -, nicht das Geringste mit Derrida zu tun hat. Politisch war der Mann, wie viele Philosophen, unglaublich frivol.
Das Problem mit Derridas Denken liegt jedoch gerade nicht in einem vermeintlich zerstörerischen oder totalitären Zugriff auf alles, was einem lieb, teuer und heilig sein kann, Regeln, Traditionen, Begrifflichkeiten, Bedeutungen etc.pp Im Gegenteil, die Indifferenz, die Unentschiedenheit, das sich-nicht-festlegen-wollen, das unentwegte sich-Entziehen machen sein Denken schwierig und manchmal ungenießbar. Aufgrund seiner Indifferenz weigerte er sich, den 11. September 2011 „Massenmord“ oder „Terroranschlag“ zu nennen, und flüchtete sich lieber feige in zeichentheoretische Gemeinplätze. Derrida saß jahrzehntelang an seinem Schreibtisch und las – meist, aber nicht nur – Texte der abendländischen Metaphysik, Platon, Hegel, Marx und Heidegger so lange gegen den Strich, bis er die Stellen gefunden hatte, an denen dieser Text über die eigenen, nicht mitbedachten Vorannahmen stolperte – irgendeine Hierarchie, irgendein Gegensatz, irgendeine interne Widersprüchlichkeit, irgendeine unausgesprochene Voraussetzung -, die dann das Gedankengebäude zum Einsturz brachten, weil der Text ohne diese Bausteine keinen Sinn mehr ergab. Das nannte er das Sammeln von Un-Sinn. Derrida spielte mit den Einzelteilen. Das ist nicht so furchtbar aufregend, weil das in so gut wie jeder Analyse geschieht. Das ist dann auch schon die ganze Dekonstruktion. Wie er selber sagte, Kein Verfahren, dass sich immer und überall und auf alles und jedes anwenden lässt. Leute, die von seinem Denken beeindruckt waren, haben das trotzdem getan, was man Derrida nicht anlasten kann. Alles in allem eine auf Dauer ermüdende Angelegenheit. Es ging Derrida nie ums Zertrümmern, Zerschlagen, Zerstören, Vernichten, nie darum, die von ihm strapazierten Texte und Phänomene für verzichtbar, ungültig, überflüssig, erledigt, falsch oder sinnlos zu erklären (das machte Heidegger), sondern darum, ihre gedanklichen Voraussetzungen – die viel zitierten Leerstellen im Text – zu verdeutlichen. Ohne rudimentäre Kenntnisse der Sprachwissenschaft, Zeichentheorie und Sprachphilosophie bleiben Derridas Texte und Bücher unverständlich.
Es geht bei Derrida, wie beinah immer in der Philosophie, nie um Fakten, sondern um Denkweisen, weshalb die Dekonstruktion anderswo als dort nichts zu suchen hat. In der Literaturtheorie und -analyse vielleicht noch. Aber mit Sicherheit nicht in der Soziologie, die auf Fakten und Empirie angewiesen ist, nichts in den allgemeinen Kulturwissenschaften, erst recht nichts in der Politologie und nichts in der Geschichtswissenschaft. War es für mich Zeitverschwendung, Derrida zu lesen? Nein. Kann man sich das sparen? Ja. Es sei denn, man schreibt über ihn. Hat er Schaden angerichtet? Mit Sicherheit nicht. Ich würde viel darauf verwetten, dass die meisten von denen, die heute unter dem Blödelwort „Dekonstruktivismus“ Karriere im Wissenschaftsbetrieb machen, Derridas Texte und Bücher nicht verstanden und wahrscheinlich noch nicht mal gelesen haben. Wird Derridas Werk in die Philosophiegeschichte eingehen? Kann sein. War er ein Schwätzer, Laberer, Schwafler? Sicher nicht mehr und nicht weniger als der Verfasser des „Achse“-Beitrags, der vermutlich außer Zitaten aus Texten über Derrida nichts von ihm gelesen hat, was man seinem Text auf Schritt und Tritt anmerkt. Der Aussage, dass man aus dem Blick in eine Pfütze mehr über Erkenntnistheorie lernen kann als bei Derrida, hätte dieser wahrscheinlich zugestimmt. Ich tue es jedenfalls. Doch das vom Verfasser zitierte Bonmot von Roger Scruton ist zwar hübsch, zielt aber präzise am Kern vorbei, weil Philosophen nicht dazu da sind, dass man ihnen „glaubt“, sondern dazu, dass man ihre Gedanken entweder angreift und widerlegt oder aber einfach ignoriert. Derrida kann man, anders als andere, in Ruhe tot sein lassen.
Jedenfalls hat Derrida den postmodernen Narrenzug nicht eröffnet und lässt sich für den Unfug, der heute in manchen universitären Fachbereichen unter dem Schlagwort „Dekonstruktion“ veranstaltet wird, nicht verantwortlich machen, und erst recht nicht für die Geschwätzigkeit von Ausstellungskatalogen. Wokeness ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man aus Derridas Denken folgern kann, weshalb es auch nicht ihre „Wurzel“ ist. Woke Leute urteilen ohne jeden Gedanken rasch, brutal, unwiderruflich und destruktiv, canceln unerbittlich, zertrümmern und zerschlagen besinnungslos, blindwütig und bilderstürmerisch, so totalitär, wie die christlichen Kirchen es früher taten, wie der Gerechtigkeitsfanatiker und Tugendterrorist Robespierre zur Zeit der französischen Revolution es tat, wie die Nazis, Kommunisten und Islamisten, die sich alle durch die Bank im Besitz einer Wahrheit wähnten und wähnen, es taten und bis heute tun. Das lässt sich mit Derridas Denken nicht vereinbaren und mit der des politischen Westens sowieso nicht.
Bei Judith Butler, der Hamas-Jüngerin, sieht die Sache völlig anders aus. Ich habe die Textstellen schon in ihren frühen Büchern, die genau auf diese Jüngerschaft hinauslaufen – das Gerede vom Kulturimperialismus und die Ressentiments gegen den Westen beispielsweise – auch damals schon wahrgenommen, hielt das aber fälschlicherweise für vernachlässigbar und das war ein schwerer Irrtum. Butler die Wahrheit von exakt zwei biologischen Geschlechtern plus Abweichungen davon entgegenzuhalten, ist dessen ungeachtet gleichfalls nicht voraussetzungslos, ergo „konstruiert“, weil sie den Nachweis von exakt nur zwei geschlechtsdefinierenden Keimzellen erfordert, den erst die moderne Biologie erbracht hat. Marie-Luise Vollbrecht hat das 2022 in ihrem von woken Leuten an der Berliner Humboldt-Universität zunächst verhinderten Vortrag dargelegt, der später auf YouTube zu hören war. Zwar wussten auch die Alten schon, dass es zwei Geschlechter, aber eben nicht mit Sicherheit, dass es nicht noch ein paar mehr davon gibt. Nur wären sie nie auf die Idee gekommen, sich darüber überhaupt Gedanken zu machen. Unter „bloß konstruiert“ scheint der Verfasser des „Achse“-Beitrags so etwas wie eine Software zu verstehen, die auf eine davon völlig unabhängige Hardware installiert werden kann. Das ist Platon, deutscher Idealismus oder der neo-marxistische Mumpitz von Basis und Überbau. Zumindest das hätte Florian Friedman bei Derrida lernen können.