Eine 1500 Jahre alte Steintafel mit den zehn Geboten in althebräischen Schriftzeichen aus dem heutigen Israel beweist abermals die kulturhistorisch unauflösliche Verbindung des Judentums mit dem Nahen Osten. Die zehn Gebote sind die Grundlage der gesamten westlichen Welt geworden, die ohne sie undenkbar wäre https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/aelteste-bekannte-tafel-der-zehn-gebote-wird-heute-versteigert/.
Das wusste im Übrigen schon Heinrich Heine, der im Orient immer den Okzident am Werk sah und Christen, namentlich die Protestanten unter ihnen, gewohnt ironisch als „Schweinefleisch fressende Juden“ ansah. Heine wusste zugleich, dass punktgenau diese Tatsache den mörderischen christlichen Judenhass ausgelöst hatte. Ihn beschrieb er unter anderem im unvollendet gebliebenen Prosastück „Der Rabbi von Bacherach“, das ein von der Ritualmordlegende ausgelöstes Pogrom im Rheinland thematisiert, und in seinen Zeitungsartikeln zur Damaskus-Affäre von 1840, die einen Ritualmordvorwurf in Damaskus zum Gegenstand hat. Die Wurzeln der judenfeindlichen Ritualmordlegende, der zufolge Juden angeblich das Blut von Christen und Muslimen im Pessah-Brot verbacken oder es anderweitig zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensfunktionen benötigen würden, reichen bis an den Beginn unserer Zeitrechnung zurück. 1840 wurden in der Hauptstadt des heutigen Syrien aufgrund einer solchen Blutbeschuldigung führende Vertreter der Damaszener Juden gefoltert und ermordet. Die damalige Affäre war eine judenfeindliche Allianz ost-westlicher Akteure, wie sie später wiederkehren sollte. Die Ritualmordlegende entstand im Orient, wurde aber im christlichen Europa des Mittelalters ebenso heimisch wie sie das im Orient geblieben ist. Bis heute entfaltet sie hier wie dort ihre mörderische Wirkung bei Rechts- wie Linksextremen, unter Christen wie unter Muslimen.
Womit wir bei den syrischen Flüchtlingen wären. Hafiz und Baschar al-Assads langjähriger Verteidigungsminister Mustafa Tlas (1932 – 2017) veröffentlichte in einem von ihm begründeten Verlag nicht nur die „Protokolle der Weisen von Zion“, die im Nahen Osten seit Beginn der 1920er Jahre geläufig gewesen sind, sondern 1983 auch ein von ihm selbst verfasstes Buch mit dem Titel „Matza of Zion“, in dem er die Blutbeschuldigung der Damaskus-Affäre von 1840 reaktivierte. Zehn Jahre zuvor, 1973, hatte die DDR Syrien für den Krieg gegen Israel mit Waffen beliefert. Israel gewann den Jom-Kippur-Krieg, aber genau das war, wie schon sein Sieg im Sechstagekrieg 1967, der Grund für das fortgesetzte Schüren antisemitischer Ressentiments durch den syrischen Staat, sein systematisches Aufhetzen von Schülern und Studenten gegen Israel. Es wäre nötig gewesen, all das ab 2015/16 öffentlich zu debattieren und ein eigenständiges Bildungsprogramm für Schulen und Integrationskurse aufzulegen, die diesen glasklar importierten Antisemitismus thematisiert und mit ihm aufräumt. Man hätte mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen können: Mit Heine die deutsche Sprache und deutsches Bildungsgut vermitteln, mit faktenbasierter Zeitgeschichte sowohl ostdeutsche als auch syrische Propagandalügen über Israel entlarven, aufarbeiten und en passant auch noch politische Bildungsarbeit in Sachen freiheitlich-demokratische Grundordnung leisten können. Das hätte Deutschen und syrischen Flüchtlingen gleichermaßen gutgetan. Meines Wissens ist all das nicht geschehen. Eine der vielen Folgen waren die Beteiligung syrischer Flüchtlinge an Angriffen auf deutsche Synagogen und an den Anti-Israel-Aufmärschen auf deutschen Straßen seit dem mörderischen Pogrom der Hamas mit den bis heute noch immer nicht beendeten Geiselnahmen im Süden Israels am 7. Oktober 2023. Doch die absurde Vorstellung, dass allein Deutsche Syrer integrieren könnten, geistert seit fast einem Jahrzehnt durch die Köpfe vorzugsweise linker Politiker und Medienvertreter. Bitte, das ist ein ebensolches Ding der Unmöglichkeit wie die Aufhebung der Gravitation. Denn Syrer – wie alle Einwanderer – können sich nur selber in eine Aufnahmegesellschaft integrieren und eine Aufnahmegesellschaft kann ihnen wiederum bestenfalls dabei helfen, das zu tun.
Unmittelbar nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien vor eineinhalb Wochen haben Unionspolitiker die Rückkehr integrationsunwilliger syrischer Flüchtlinge in ihr Herkunftsland angemahnt. Mich hat weder diese Aufforderung zur baldigen Rückkehr noch der Zeitpunkt ihrer Äußerung empört. Von Anfang an stand fest, dass syrische Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren müssen, wenn der Flucht- oder Schutzgrund entfallen ist. Daran hat noch nicht einmal Angela Merkel, die für das Desaster der außer Kontrolle geratenen Asyl- und Flüchtlingspolitik verantwortlich ist, irgendeinen Zweifel gelassen. Ob Syrer, die nicht eingebürgert wurden, zurückkehren oder nicht, entscheiden nicht sie, sondern das deutsche und europäische Recht. Die seit 2015 zugewanderten Syrer bilden keine homogene Gruppe, das ist schon klar. Und es werden definitiv – in manchen Fällen glücklicherweise – nicht alle von ihnen zurückkehren. Doch ein Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor sind syrische Flüchtlinge nicht geworden. Falls die Zahl von um die 6000 im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 zugewanderten syrischen Ärzte zutrifft, ist das angesichts von fast einer Million ihrer auf dem gleichen Weg zur gleichen Zeit in Deutschland angelangten Landsleute nachgerade lächerlich, weil dadurch ja auch die Anzahl der hier medizinisch zu versorgenden Menschen gestiegen ist.
Noch einmal: Jeder ist in Deutschland willkommen, der bereit ist, nach den hier geltenden Regeln zu leben und sich mit der Geschichte dieses Landes einschließlich seiner Verpflichtungen gegenüber Israel vertraut zu machen. Es ist unmöglich in Syrien als Deutsche, Tschechen, Polen, Franzosen, Dänen oder Schweden zu leben, als hätte man sein Herkunftsland nie verlassen, und umgekehrt gilt das auch, kann man als Syrer in den aufgezählten Ländern nicht leben, als hätte man Syrien nie verlassen. Obwohl das wie eine Binse klingt, bin ich mir nicht sicher, dass das allen in den letzten zehn Jahren nach Deutschland zugewanderten Syrern tatsächlich klargeworden ist. Schuld daran haben aber nicht sie, sondern all die Politiker, Journalisten, Flüchtlingsinitiativen etc. die ihnen ein X für ein U vorgemacht und sie in der Vorstellung bestärkt haben, sie könnten, müssten, sollten, dürften etc. Deutschland nach arabischem Vorbild umgestalten, kurzum die Einheimischen müssten sich nach ihnen richten und nicht sie sich nach den Einheimischen, also all denjenigen, die dieses Land und seine freiheitlich-demokratische Grundordnung seit fünfunddreißig, fünfzig, sechzig, fünfundsiebzig Jahren aufgebaut und aufrechterhalten haben. Dem vorangegangen war ein von Nazi-Deutschland, dessen Führer damals auch unter einigen Syrern hohes Ansehen genoss, angezettelter mörderischer Weltkrieg, an dessen Ende halb Europa in Trümmern lag. Danach haben die Europäer ihre Länder wieder aufgebaut – das gilt für West- wie Osteuropa – und das war einst der Grundstein ihres heutigen Wohlstands. Dass Syrer vor Assad, dessen Baath-Partei durchaus mit der NSDAP vergleichbar ist, vor dem Islamischen Staat, vor den Bomben des Regimes und Russlands ins Ausland flohen, ist nur allzu verständlich. Erste Hilfsadresse aber wären die Staaten der Arabischen Liga gewesen und nicht die der Europäischen Union. Dass die Liga nicht half, ist ebenso beschämend wie beredt.
Aber die Vorstellung, dass ohne die in Europa lebenden syrischen Flüchtlinge erst ein neues Syrien von den Daheimgebliebenen aufgebaut worden sein müsse, bevor und damit die Flüchtlinge überhaupt zurückkehren könnten, erscheint mir grotesk. Mehr noch, es ist geradezu kontraproduktiv. Denn das künftige Syrien kann überhaupt nicht friedlicher, menschenwürdiger und freier sein als das vergangene, wenn nicht ein Großteil der Syrer an seinem Aufbau und seiner Gestaltung beteiligt ist. Selbstverständlich würde es Chaos produzieren, wenn plötzlich fast alle der vier bis fünf Millionen geflohenen Syrer schon ab morgen auf einen Schlag zurückkehren würden. Doch daran, dass diese Rückkehr nach und nach, geordnet und in absehbarer Zeit wird erfolgen müssen, ändert das nichts. Die zehn Gebote kamen aus dem Orient und sind zur Verfassungsgrundlage des Okzidents geworden. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, dass sie nicht auch eine neue Verfassung Syriens wenigstens inspirieren könnten. Ein Syrien der Muslimbrüder wäre dann ebenso unmöglich wie eines von Militärdiktatoren wie den Assads.