2023 wurden die Figuren einer Weihnachtskrippe auf dem Rüsselsheimer Marktplatz rabiat zugerichtet: Maria, Josef, den heiligen drei Königen und dem Esel waren die Köpfe abgeschlagen worden, einigen von ihnen hatte man zusätzlich die Hände abgetrennt https://www.bild.de/regional/frankfurt/frankfurt-aktuell/weihnachts-krippe-in-ruesselsheim-beschaedigt-86461932.bild.html. Naiv muss sein, wer glaubt, dass die Leute, die diese Zerstörungsorgie angerichtet haben, bloß Weihnachtsmuffel sind, die wie die „Letzte Generation“ am Brandenburger Tor lustvoll die Spitze eines Weihnachtsbaums abmähen, weil sie das im elterlichen Heim aus Furcht davor, enterbt zu werden, niemals zu tun wagen würden. Wer auch immer sein Mütchen an den Krippenspielfiguren gekühlt hat, die Leute fanden das nicht lustig. Ich auch nicht und seitdem stehe ich auf Weihnachten. „Noch sind es bloß Figuren aus Styropor“, bemerkte ein Freund trocken, als er letztes Jahr die Nachricht aus Rüsselsheim auf seinem Handy las, „Der Lehrer damals in Paris war aus Fleisch und Blut.“ Er meinte Samuel Paty, dem ein Islamist im Oktober 2020 den Kopf abschlug, weil eine Schülerin ihrem ohnehin von Hass auf den Westen erfüllten Vater vorgelogen hatte, Paty hätte in einer Unterrichtsstunde zum Thema Meinungsfreiheit, in der er auch die Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, Muslime beleidigt.
Weihnachten, wie wir es kennen, ist ein modernes westliches Genussfest. Außerhalb der Kirche feiert man das in Mitteleuropa und Nordamerika erst seit etwas über 200 Jahren. Der größte Kitsch, das ungesündeste Essen, die schlimmsten Kalorienbomben, die teuersten Geschenke sind in diesen Tagen erlaubt. Man kann die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens oder „Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ von Hans-Christian Andersen lesen, eines der Weihnachtsgedichte von Joseph Brodsky oder Friedrich Wolfs „Die Weihnachtsganz Auguste“, die nicht geschlachtet wird. Weihnachtslieder kann auch schmettern, wer den Ton nicht immer trifft. Sie wurden von Christen, Juden, Atheisten und Agnostikern getextet und komponiert. „Stille Nacht, heilige Nacht“ besticht durch geniale Einfachheit, „Rudolph the red-nosed reindeer“ durch die Story, deren Held ein Tier ist, und den Jazz. Weihnachten können – wie übrigens auch Chanukkah, das allerdings eine völlig andere Angelegenheit ist – alle Menschen feiern. Egal, ob und was sie glauben oder sind, ob Juden, Christen, Muslime, Bahai, Hindus, Buddhisten, Atheisten oder sonst etwas. Beim Ramadan geht das nicht. Wenn alle über Wochen ganztags bis Sonnenuntergang nichts essen und nichts trinken, kollabiert das Land.
Kaum ein Mensch in diesen Breiten glaubt noch, dass Jesus, falls es ihn gegeben hat, am 24. Dezember geboren wurde. Wenn das aber trotzdem einer tut, ist das auch okay. Weihnachten ist die Zeit der Oratorien, des ersten Teils von Händels „Messiah“ und von Bachs Weihnachtsoratorium. Musikalisch sind Händel und Bach von einer Klarheit und Aufgeräumtheit, die ihresgleichen sucht. Und man muss nicht erst Anlässe schaffen, um unaufgeregt über Jesus und die Evangelien zu debattieren. Darüber, dass Jesus Zeit seines Lebens kein Christ und auch nicht der Messias gewesen ist und das Judentum nicht reformiert hat. Wie jeder gute Rabbi legte er lediglich die traditionellen Gesetze zeitgemäß aus. Ährenlesen ist auch am Sabbat erlaubt, wenn es darum geht, Menschen vorm Verhungern zu bewahren. Wer immer die Evangelien verfasst hat, kannte sich in der hebräischen Bibel bestens aus. Die römische Besatzung war grausam. Um ihr Leben nicht in Gefahr zu bringen, mussten die Juden ihr Verhalten anpassen. Wer von den Redakteuren der Evangelien die Überschrift „Antithesen“ über die sogenannte Bergpredigt eingefügt hat, führte die späteren Leser in die Irre. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist kein Rache- und Vergeltungsgebot, sondern eine Schadensersatzformel. Rache übt nach jüdischer Vorstellung der Allmächtige, nicht der Mensch. Manches, wie der Kindermord zu Betlehem, ist erfunden, denn den hat es historisch nicht gegeben. Und das ganze Stall-Ambiente der Krippenspiele ist Lutherkram. Jesus kam aus Nazareth und schon sind wir wieder in Nahost, wo einheimische arabische Christen in Betlehem keine Arbeit hätten, wenn es den Weihnachtskult im Westen nicht gäbe. Wissenschaftler wissen das alles, wenn auch bloß akademisch. Und bis es sich herumgesprochen hat, würden Jahrzehnte vergehen. Braucht es nicht, denn wir haben die schönsten Anlässe, darüber zu reden. Wir haben Weihnachten, Händel, Bach, die Kirchen als uralte Kunstdenkmäler und damit den unvergleichlichen Vorteil Genuss, Unterhaltung, Lernen und revidieren miteinander zu verbinden. Wir gehen an die Ausgangspunkte und Relaisstationen, legen andere Spuren und bewegen uns dann auf einem neuen Weg zurück in die Zukunft. Das – und eben nicht Destruktion – hatte Jacques Derrida eigentlich mit DeKONstruktion gemeint. Der Mann hat ja nun nicht ahnen können, dass die Erfinder der Jammer- und Beschwerdestudien derart stümpern und dilettieren.