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Sport, Kunst und Politik oder: Hart wie Riefenstahl

Ist keine brandneue Erkenntnis, dass Leni Riefenstahl zeitlebens wie gedruckt log. Das fängt schon bei ihrer Person als cineastischem Genie an, das mit „Triumph des Willens“ (1935) und „Olympia“ (1938) kamera- und montagetechnische Innovationen in die Filmgeschichte eingeführt hätte. Tatsächlich waren es andere, die diese Großtaten vollbrachten. Da war der Riesenstab an geschickten und versierten Kameraleuten, oft selber Sportler, die schon in den Weimarer Jahren im Berg- und Sportfilm bei Regisseuren wie Arnold Fanck experimentiert hatten. Stichworte Freiburger Schule und Sepp Allgeier. Aber auch – wie Riefenstahl selbst – Hitler-Bewunderer und Kanusportler wie Walter Frentz, die ihr von Albert Speer empfohlen worden waren. Da gab es außerdem bekannte Meister der Montage mit viel Gespür für Bildkomposition, Rhythmik und Dynamik aus der Dokumentar- und Spielfilmsparte wie Walter Ruttmann (Berlin – Die Symphonie der Großstadt, 1927) und G.W. Pabst (u. a. Die freudlose Gasse mit Greta Garbo, 1925; Die Büchse der Pandora mit Louise Brooks, 1929; Die Dreigroschenoper mit Carola Neher, 1931), die Riefenstahl beratend und als Vorbilder zur Seite standen. Schließlich an Film- und Kunsthochschulen ausgebildete Könner des Fachs wie Willy Zielke, der über Filmarbeiten (Arbeitslos, 1933; Das Stahltier, 1935) verfügte, die Goebbels – wie praktisch für Riefenstahl – unter Zensur hielt. Diese Filme kann man heute zum Vergleich heranziehen, wie das die inzwischen verstorbene Dokumentarfilmerin Nina Gladitz im der Doku „Leni Riefenstahl, Das Ende eines Mythos“ (2020) von Michael Kloft und in ihrem Buch „Leni Riefenstahl, Karriere einer Täterin“ (2020) getan hat.

Laut Gladitz hat Zielke den vielzitierten „Olympia“-Prolog mit der Akropolis und der Überblendung des Diskuswerfers entworfen, gedreht und montiert, den Riefenstahl später umgeschnitten haben soll. Zielke landete nicht ohne Riefenstahls Zutun in einer Heilanstalt, bekam die Diagnose Schizophrenie, wurde entmündigt und sterilisiert, Riefenstahl dagegen auf dem roten Teppich von Filmfestspielen und Preisverleihungen. Gladitz war von Riefenstahl in den 1980er Jahren vor Gericht gezerrt worden, weil sie in ihrer WDR-Doku „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“ (1982) nachgewiesen hatte, dass die Sinti, die Riefenstahl für ihren Spielfilm „Tiefland“ (1940/44, 1954) als Komparsen aus Konzentrationslagern zwangsverpflichtet hatte, anschließend fast alle in Auschwitz ermordet wurden. Willy Zielkes Name verschwand übrigens ebenso schnell aus Vor- und Abspann von „Olympia“, wie nach der Machtergreifung der Nazis 1933 die Namen des Produzenten Harry Sokal, der Regisseure und Drehbuchautoren Béla Baláz, Carl Mayer und Arnold Fanck aus dem des Spielfilms „Das blaue Licht“ (1932), in dem Riefenstahl die Hauptrolle spielte und das bis heute als ihr eigenständiges Regiedebut gilt. „Das blaue Licht“ soll der Grund dafür gewesen sein, dass Adolf Hitler Riefenstahl schon 1932 in Aussicht gestellt habe, dass sie und niemand sonst „seine“ Filme machen würde, sobald er an die Macht gelangt sei.

Als Tänzerin und Schauspielerin waren, glaubt man den von Biographen recherchierten zeitgenössischen Kritiken, Riefenstahls Fähigkeiten überschaubar. Wer sich nur ein wenig mit den Künsten und den Vorstellungen über sie im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik auskennt, merkt schnell, dass Riefenstahls Geplapper ein Kunstverständnis verriet, dass schon zu Kaisers Zeiten angeschimmelt war, auch wenn sie sich viel darauf zugutehielt und immer dann berief, wenn spätere Kritiker ihren Filmen eine faschistische Ästhetik und NS-Propaganda attestierten. Riefenstahls neo-klassizistisches Ideal, das Kaiserreich-Bestseller wie Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ und Houston Stewart Chamberlains „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ propagiert hatten, ließ eine Trennung von Kunst und Politik überhaupt nicht zu. Im Gegenteil. Langbehn wie Chamberlain wendeten den Genie- und Künstler-Kult um 1900 ausdrücklich auf die Politik an. Sie waren Antisemiten vom Scheitel bis zur Sohle, Verfechter des Rassedenkens und der Vorstellung, die Kunst von Antike, Renaissance und Barock würden im Deutsch-Germanischen nahtlos ihre Fortsetzung und mustergültige Erfüllung finden. Das klang schon in der Kunstwelt um 1900 furchtbar komisch, wurde von zeitgenössischen Kritikern und Künstlern angegriffen und verlacht. Langbehn, der ganz wie später Diederich Heßling in Heinrich Manns „Der Untertan“, Kaiser-Kult und Hurra-Patriotismus zelebrierte, und Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners und einer der Integrationsfiguren des Bayreuther Kreises, hatten die Kunst- und Kulturvorstellungen geprägt, denen Hitler und Riefenstahl anhingen und die in den 1930er Jahren so originell und innovativ waren wie ein jahrzehntealtes Käsebrot, das die Uroma im hintersten Winkel des Küchenschranks vergessen hat. Albert Speers Neue Reichskanzlei und das Reichshauptstadt-Germania-Projekt lassen grüßen. Das war nicht bloß Größenwahn, das war ästhetischer Totschlag. Dass Riefenstahl sich nicht scheute, bis zu ihrem Tod die Schmierenkomödie einer angeblich unpolitischen Künstlerin aufzuführen, die noch nie etwas anderem als ihrem Genie verpflichtet gewesen sein wollte, zeigte, für wie dumm und verachtenswert sie diejenigen hielt, die ihr eine Bühne boten. Ob nun Ray Müller 1993 in der Doku „Die Macht der Bilder“ oder Sandra Maischberger 2002 anlässlich des 100. Geburtstags der NS-Veteranin.

Es beweist aber auch, wie verlogen, verbissen und zäh ein Mensch sein kann, der sich – wie Riefenstahls Seelenverwandter Adolf – für einen Künstler und ein Genie hält, auch wenn er oder sie die dafür nötigen Voraussetzungen nicht erfüllt. Dabei hatten alte Meister ihres Fachs den Künstler-Kult ästhetisch längst genüsslich zerlegt, von Kafka über die Brüder Mann bis hin zu Musil. Immerhin wäre der Welt einiges erspart geblieben, auch die Riefenstahl, hätte sich Hitler darauf verlegt, Postkarten anzumalen, Kulissen und Kostüme für Wagner-Opern auszuhecken oder im Zirkus Ritterspiele aufzuführen. Riefenstahl hat sich an Hitler rangeschmissen und nicht umgekehrt. Ohne die Nazis wäre aus Riefenstahl keine weltbekannte Regisseurin geworden. Nicht trotz, sondern wegen des „Blauen Lichts“. Denn den Rest hätte die Kunstkritik erledigt. Ohne riesigen Mitarbeiterstab und einen Pool etablierter Könnerschaft, dessen sich Riefenstahl bei der Parteitagstrilogie und bei „Olympia“ bediente, hat sie keinen nennenswerten Film mehr zustande gebracht. „Tiefland“ fiel cineastisch lange vor dem Skandal um die zwangsverpflichteten Sinti als missglückter Transfer von der Opernbühne auf die Leinwand durch.

Riefenstahls Filmen war ich erstmals um 1991/92 in einem Seminar und einer Vorlesung von Marc Silverman über das Deutsche Kino an der Freien Universität Berlin begegnet. Ob nun der Klau an Baláz, Mayer oder Fanck beim „Blauen Licht“ einschließlich des als „mystisch“ verkauften „faulen Zaubers“, die exakte Übersetzung von Nazi-Ideologie ins Bildprogramm von „Triumph des Willens“, der faschistische Körper-Kult in „Olympia“ oder der misslungene Medientransfer in „Tiefland“ einschließlich der später ermordeten Sinti, all das wurde im Seminar minutiös Szene für Szene analysiert und abgeklärt. Anfang der Neunziger! Als ich dann im allertiefsten Rheinland die zweiteilige Doku „Die Macht der Bilder“ von Ray Müller über und mit Leni Riefenstahl sah, wunderte ich mich über die merkwürdig kritiklose Ergebenheit und das Stehenlassen offenkundiger Lügen Riefenstahls. Nina Gladitz‘ Doku von 1982 war zwar aufgrund der Klage Riefenstahls – die sie in fast allen Punkten verloren hatte – vom WDR kassiert worden (warum eigentlich?), aber die Fakten einschließlich des Gerichtsurteils lagen juristisch wasserdicht auf dem Tisch. Ihre Anbiederung an Hitler, ihr Judenhass in der Angelegenheit Baláz, der sein Honorar für die Mitarbeit am „Blauen Licht“ eingefordert hatte, und ihre diesbezügliche Vollmacht für Julius Streicher, den Herausgeber des „Stürmer“,  ihr Leugnen des reichsweiten Novemberpogroms 1938 gegenüber amerikanischen Medien waren ebenfalls durch zeitgenössische Dokumente belegt, von denen Müller sogar einige in seinen Film aufgenommen hatte. Warum also der seltsame Kotau vor NS-Regielegende Riefenstahl, noch unterstützt durch die beiden Nazis Lantschner und Frentz, zwei ihrer Kameramänner bei „Olympia“? Einen zumindest kleinen dokumentarischen Wert hatten bestenfalls Riefenstahls Geschrei und ihr fortgesetztes Leugnen der Fakten. Man bekam einen Eindruck davon, wie sich Riefenstahl im Prozess gegen Gladitz im Gerichtssaal aufgeführt hatte. Aber muss man dafür eine alte Nazine ins bundesdeutsche Fernsehen bringen?

Man wurde Zeuge eines psychologischen Phänomens, den Fachleute „Abspaltung“ nennen. Das spielt sich ab, wenn Leute mit der Wahrheit der Fakten auf Kriegsfuß stehen, in die sie sich verstrickt haben. Würden sie sich ihnen stellen, könnten sie nicht weiterleben. Allerdings lässt sich dieses Phänomen bei Riefenstahl seit 1938 beobachten, als sie die Novemberpogrome vor laufenden Kameras abstritt. Ein Jahr später, als sie nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 12. September 1939 mit hoher Wahrscheinlichkeit in Konskie Augenzeugin einer Massenerschießung jüdischer Zivilisten wurde – auch das bestritt sie nach 1945 -, brauchte sie nicht einmal vier Wochen, um sich – durch ihr eigenes Kamerateam dokumentiert – ausgeruht und gelassen die Siegesparade der Wehrmacht in Warschau anzuschauen. Ihr Kameramann Walter Frentz (Parteitagstrilogie, „Olympia“) wurde während des Kriegs Bildberichterstatter – Film und Foto, schwarzweiß und in Farbe -, setzte gern Hitler und NS-Größen privat wie in Ausübung ihres Amts ins rechte Licht und wurde am 15. August 1941 Augenzeuge eines Massakers an jüdischen Zivilisten bei Minsk, das für den Besucher Heinrich Himmler, den Frentz auf eigenen Wunsch begleitet hatte, veranstaltet wurde, worüber der Kameramann und Fotograf später auf dem Zeitzeugen-Portal Auskunft gab. Nicht ohne die „ganze Judengeschichte“ für eine Marotte der Gefallsucht Himmlers zu halten, von der Hitler Frentz zufolge nichts gewusst haben konnte (https://www.youtube.com/watch?v=uZzF_veOCLc). Aus Riefenstahls Sicht log nicht etwa sie selbst fortwährend über ihre engen Beziehungen zu den Größen des Dritten Reichs, sondern Goebbels in seinem Tagebuch, der darüber akribisch Buch geführt hatte. Für Frentz konnte noch nicht einmal Hitler etwas über die Judenvernichtung gewusst haben, obwohl er sie in seinen Reden ununterbrochen angekündigt und bestätigt hatte, Reden, die oft gedruckt in Tageszeitungen erschienen waren.

Riefenstahl und Frentz sind nicht deshalb kultursoziologisch interessant, weil sie außergewöhnlich gewesen wären, sondern weil sie erstens für jedermann sicht- und hörbar in aller Öffentlichkeit Offenkundiges bis ans Lebensende geleugnet hatten. So etwas geschah jahrzehntelang in Millionen von Familien privat, auch wenn nicht alle so verstrickt ins Dritte Reich gewesen sind wie diese beiden. Es waren zweitens und noch viel wichtiger ihre Augen, durch die das Dritte Reich von vielen ihrer deutschen Zeitgenossen gesehen wurde. Es waren neben anderen vor allem sie, die Hitler film- und fototechnisch zur heroischen Erlösergestalt verklärten und die Deutschen zu jener bedingungslosen Gefolgschaft animierten, zu der sie zwar auch ohne die beiden bereit gewesen sind, die ihnen aber umso leichter fiel, je glänzender, entrückter und heiliger die inszenierte Führer-Figur erstrahlte. In Hitler konnten vor 1933 alle seine Anhänger, die ihn persönlich kannten oder einen seiner Auftritte erlebt hatten, ihre Wünsche und Hoffnungen hineinprojizieren, was zu der Annahme berechtigt, dass er ihnen aus der Seele sprach. Nach 1933 konnten Abermillionen, die Hitler nie persönlich begegnet waren, dank der Vermittlung Riefenstahls, Frenz & Co Ähnliches erleben. Für viele Deutsche gingen diese Wünsche und Hoffnungen bis 1940 in Erfüllung: Die „Novemberverbrecher“, die einen „Schandfrieden“ geschlossen und eine „Erfüllungspolitik“ gegenüber den Alliierten betrieben hatten, wurden entmachtet und die frechen Juden erhielten ihre wohlverdiente Abreibung, wurden bestraft und aus dem Land gejagt. Das war mit Sicherheit nichts, womit Riefenstahl und Frentz nicht im allerhöchsten Maße einverstanden gewesen wären. Wie viele Deutsche auch. Und nach 1945 war Hitler dann von der allerhöchsten Lichtgestalt, die Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen erfüllt hatte, zum allerniedrigsten Dämon abgesunken oder aber hatte – wie man selber – von der Judenverfolgung und -vernichtung nichts gemerkt, nichts gewusst, nichts gesehen und nichts gehört. Vor 1945 war Hitler unantastbar, weil auch dank der Bilder von Riefenstahl & Co in himmlische Sphären entrückt, und nach 1945 war Hitler unberührbar, weil der Leibhaftige in Person. Wäre Hitler für diese Leute weder das eine noch das andere gewesen, hätten sie sich mit ihrem eigenen Denken, Fühlen und Tun befassen müssen.

Wäre Leni Riefenstahl das cineastische Genie gewesen, für das einige sie offenbar noch immer halten, wäre das alles übrigens nicht anders. Das war sie aber nun einmal nicht. Sie war, darin ihren Förderern Hitler, Albert Speer und vielen anderen nicht unähnlich, ein furchtbar verlogener Mensch mit großen Ambitionen, die ihre Fähigkeiten weit überstiegen. Riefenstahl war mit der Begabung ausgestattet, sich von anderen die Leistung zu organisieren, zu der sie selbst nicht imstande gewesen ist. Das ist nicht so furchtbar ungewöhnlich. Viel ungewöhnlicher ist, dass das bis zu ihrem Tod so gut funktioniert hat und die öffentlich-rechtlichen Medien dabei bis zum Schluss mitspielten.