Man muss kein Christ sein, um die Evangelien, die Paulus-Briefe, die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes als kulturgeschichtlich bedeutsames Erbe schätzen zu können. Ohne ihre Kenntnis kann man weder die morgen- noch die abendländische Kunst und Kultur verstehen. Nicht die frühchristliche, von Griechen und Aramäern geschaffene Symbolsprache und Bildwelt der Fresken und Mosaiken, nicht die oströmischen Basiliken, nicht die byzantinische Hagia Sophia im heutigen Istanbul – vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan inzwischen erneut in eine Moschee umgewandelt, anders als es Sultan Mehmed II. bei der Eroberung Konstantinopels 1453 tat, von einer Kirche, sondern von einem Museum in ein islamisches Gotteshaus -, nicht die Portale, Plastiken, Skulpturen, Grotesken: Fabelwesen und Monster, Darstellungen auf bunten Bleiglasfenstern – Ägypter und Römer hatten die Glasherstellung erfunden und perfektioniert – der alten Kathedralen, Dome und Münster mit ihren Figuren und Szenen aus der hebräischen und der christlichen Bibel, den Stammvätern, Propheten, den Aposteln, Evangelisten und der Allegorien der über die blinde Synagoge triumphierenden Ecclesia, alles ein kanonisiertes antijüdisches Vokabular an Symbolen, Bildern und Konfigurationen, die den christlichen Gedanken- und Gefühlshaushalt hervorgebracht haben, da ja damals die wenigsten Leute lesen und schreiben konnten. Übrigens haben weder die abendländische Kirche noch Adlige diese christlichen Gotteshäuser erbaut, sondern die städtischen Bürger und Handwerker.
Man könnte ohne die Evangelien weder Dante noch die Architektur, die Plastiken und die Malerei der italienischen Renaissance verstehen, weder Shakespeare noch Dostojewski, weder die Psalmenvertonungen von Schütz über Bach bis Strawinsky, weder Bachs Passionen noch die Barockdichtung, kein Brant‘sches „Narrenschiff“, keinen Cervantes und keinen Grimmelshausen, noch nicht mal Marx, Proust, Brecht, die Songs von Bob Dylan oder Leonard Cohen.
Nichts wäre törichter, als die christliche Traditionsliteratur aus unserem Bildungshaushalt entfernen zu wollen. Denn nicht die „kulturelle Aneignung“ der jüdischen Geschichte und ihres Personals durch Christen waren und sind das Problem – warum auch? -, sondern die „religiöse und kulturelle ENTeignung“ bzw. Enterbung der Juden samt der damit verbundenen und nur aus diesem Grund geschaffenen antijüdischen Bildwelten über Juden einschließlich der mit ihnen einhergehenden Ressentiments.
Einiges beruhte dabei auf Missverständnissen – Topos der „Auserwähltheit“ als Bevorzugung, „Auge um Auge“ als Rache statt als Entschädigungsverpflichtung – und Übersetzungsfehlern – „Jungfrau“ statt „junge Frau“, „Kamel“ statt Seilende durch ein „Nadelöhr“ -, anderes war dem Bedürfnis geschuldet, Juden als das Böse und Teuflische schlechthin anzusehen und für alle möglichen Übel in der Welt verantwortlich zu machen, am liebsten für das, was man selber angerichtet hat, um der Enteignung den Anschein moralischer Rechtmäßigkeit zu geben.
Es ist mehr als bloße Indifferenz, mehr als Ignoranz und zunehmend aggressiv, wenn Außenministerin Annalena Baerbock seit der Verteidigungsoffensive der israelischen Armee in Gaza infolge des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 unausgesetzt Israel, das Westjordanland, Ägypten und Jordanien bereist, um immer aufs Neue unsinnige Forderungen an Israel zu richten, es möge die Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten sicherstellen, obwohl es an der Verteilung durch die UN-Hilfsorganisationen innerhalb Gazas hapert und es auch nicht an Israel liegt, wenn die Hamas Lieferungen kapert und zu überhöhten Schwarzmarktpreisen verkauft. Wieso erzeugt Baerbock in einer Tour den Eindruck, nicht die Hamas, sondern Israel sei für die erbärmliche Lage der Palästinenser in Gaza verantwortlich? Was sollen die unablässigen Mahnungen und Appelle an die Adresse Israels? Was soll die Warnung vor einer israelischen Offensive in Rafah? Hat Baerbocks Obsession etwas mit einem bestimmten Judenbild zu tun? Geht sie der Hamas-Propaganda auf den Leim? Vor allem haben ihre ständigen Wortmeldungen nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Ausweislich ihres wikipedia-Eintrags ist Baerbock keine gläubige Christin und nur wegen des „Miteinanders“ Kirchenmitglied. Liest sie die Bergpredigt, als enthielte sie strikt zu befolgende überzeitliche Handlungsanweisungen, und glaubt, Israel vor einem Vergeltungs-Tripp bewahren zu sollen?
Die Bergpredigt ist ein wundervolles Stück Literatur,, das man nicht begreift, wenn man es als verallgemeinerbares Grundsatzprogramm auffasst und nicht auf die Lebenssituation der damaligen Juden unter militärischer Besatzung durch die grausamen Römer bezieht. „Linke Backe, rechte Backe“, wie ich kürzlich eine Journalistin in einer Talk-Show sagen hörte, war bestimmt nicht gemeint, als Jesus empfahl, sich anlässlich einer Demütigung durch die Römer nicht in Lebensgefahr zu bringen. Mit dem berühmten Auge, dass man sich besser ausreißt, ist keine grausame Selbstverstümmelung, sondern der scheelsüchtige Blick gemeint, den man lieber unterlässt, bevor Missgunst und Neid noch ganz von einem Besitz ergreifen. Die Überschrift „These und Antithese“, die irgendein Redakteur später ins Matthäus-Evangelium eingefügt hat, ist irreführend, denn sie hat Generationen von Christen in der Annahme aufwachsen lassen, Jesus hätte mit seinen Auslegungen die jüdischen Gebote reformiert, gar abgeschafft. Nichts davon hat er getan. Die problematischste Stelle ist „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, das bis heute von vielen Christen – jüngst wieder von Markus Lanz – als Vergeltungs- und Rachegebot verstanden wird, mit dem Jesus angeblich brechen würde. Es ist jedoch ein Entschädigungsgebot, das heißt, dass, wenn versehentlich einer einem einen schweren körperlichen Schaden zufügt, er dazu angehalten ist, für angemessenen Ausgleich – „Auge für Auge“ eben – zu sorgen. Es heißt nicht, dass einer einem nach der Devise „Gleiches mit Gleichem vergelten“ einen Zahn ausschlagen dürfte, falls der einem zuvor einen ausgeschlagen hätte. Dieses Missverständnis gehört zu den gröbsten und leider langlebigsten überhaupt und hat nicht wenig zu der Vorstellung beigetragen, Juden wären grundsätzlich und per Gebot auf Rache und Vergeltung aus, womit Christen in der Nachfolge von Jesus gebrochen hätten. Jesus sagt aber auch hier etwas völlig anderes und um es verständlicher zu machen: Es wäre völlig sinnlos und lebensgefährlich gewesen, als Jude auf Schadensersatz vom NS-Regime für erlittene körperliche Versehrtheit durch eine Konzentrationslagerhaft nach der Reichspogromnacht 1938 zu pochen, anstatt die Beine in die Hand zu nehmen. So sind auch die Empfehlungen für die unter dem grausamen Statthalter Pontius Pilatus lebenden Juden zu lesen, die Jesus ihnen in der Bergpredigt gibt. Er richtete seine Worte nicht an Christen und erst recht nicht an die heutigen. Pilatus hat Tausende Juden ohne jedes Gerichtsverfahren kreuzigen lassen, wie man durch Philo von Alexandria weiß, nicht nur Jesus. Der übrigens nicht so verrückt gewesen wäre, unbewaffnet nach Jerusalem zu gehen. Selbstverständlich hatten seine Jünger Waffen zur Selbstverteidigung dabei.
Heute glauben noch nicht mal mehr christliche Theologen an den historischen Faktengehalt der Evangelien und Historiker sowieso nicht (vgl. die brauchbare etwas ältere ZDF-Doku „Strafsache Jesus“ https://www.youtube.com/watch?v=vDZlTBiagww). Pontius Pilatus ist, das belegen nichtchristliche und archäologische Quellen, historisch authentisch und hat seine Gräueltaten ohne die jüdische Tempelaristokratie verübt. Ein jüdischer Priester namens Kajaphas, der den Evangelien zufolge Jesus der Gotteslästerung bezichtigt – was den Römern ziemlich egal gewesen sein dürfte – und auf einem Todesurteil bestanden haben soll, ist durch den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus und archäologische Funde ebenfalls belegt. Dass die Evangelisten kein Interesse an einer historisch-faktischen Geschichtsdarstellung hatten, liegt auf der Hand. Beispiel: Der Kindermord zu Bethlehem, von dem Matthäus schreibt, hat nie stattgefunden, ist aber bis heute eine der Quellen für die hysterischen „Kindermörder Israel“-Propagandaparolen. Die Evangelien folgen literarischen Konventionen und beschreiben keine Wirklichkeit. Ihre Verfasser waren der festen Überzeugung – erst recht nach der Zerstörung des Zweiten Tempels 70 u. Z. -, dass der Weltuntergang unmittelbar bevorstünde, Jesus der Messias gewesen sei und schon bald um die Ecke käme, um gemeinsam mit dem Allmächtigen das Jüngste Gericht abzuhalten. Sie schrieben folglich nicht auf, was sie tatsächlich hörten oder sahen, sondern fügten Zitate aus der hebräischen Bibel zusammen, um zu suggerieren, dass die dortigen Prophezeiungen in Erfüllung gegangen wären.
Ein bisschen sind die Evangelien schon so etwas wie eine postmoderne Collage, voller Typisierungen, voller geborgter gemeinorientalischer Legenden, voller tendenziöser Weltdeutung. So kann man sie heute historisch-kritisch mit Gewinn lesen.
Es hat Juden nichts genutzt, dass Christen ein halbes Jahrtausend später das gleiche Schicksal der Enteignung und Enterbung durch Muslime ereilte. Die verstanden laut Koran übrigens das Entschädigungsgebot ebenfalls als Vergeltungsaufforderung. Mit all dem kann man sich heute beschäftigen und sich die alten Texte vornehmen, um ihre Irrtümer aufzudecken. Denn da sind sie ja sowieso und gelesen und geglaubt werden sie auch. Wäre es dann nicht besser, ihr Gift ein ums andere Mal zu neutralisieren?