Als der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban kürzlich bei „Markus Lanz“ (28. 6.) über Clankriminalität und die Multikulturalismus-Ideologie sprach, die jener überhaupt erst die volle Entfaltung ermöglicht hat, wurde schlagartig klar, dass außer Ghadban selber vermutlich keiner der Anwesenden begriffen hatte, was das kommunitaristische Multikulturalismus-Konzept im Kern bedeutet. Wie wahrscheinlich viele Menschen hielten die anderen Gäste einschließlich des Moderators Multikulti für die Akzeptanz der Tatsache, dass hierzulande Menschen aller möglichen Herkünfte zusammenleben, und wohl auch für ein Bekenntnis zum Einwanderungsland Bundesrepublik.
All das ist der Multikulturalismus aber nicht. Er ist kein Gegenpol zum Rechtsextremismus, sondern sein enger Verwandter. Konsequenterweise muss man beide zurückweisen, wenn einem Rechtsstaat, Demokratie und das Grundgesetz lieb und teuer sind.
Das Multikulturalismus-Konzept der 1970/80er Jahre ging vom Modell kugelförmig geschlossener Kulturen aus und wurde unter anderem deshalb in den 1990er Jahren durch Konzepte des Interkulturellen abgelöst, die dieses Kugel-Modell öffneten und die Kulturen interagieren ließen. Kurz vor der Jahrtausendwende hat dann der Kulturphilosoph Wolfgang Weltsch ein Modell des Transkulturellen entwickelt, das seither gebräuchlich ist, weil es ein realistischeres Bild davon liefert, wie Kulturen funktionieren. Denn Weltsch begreift Kulturen grundsätzlich als in sich vielfach gebrochene, heterogene und offene, eben nicht als geschlossene und homogene Angelegenheiten, weshalb sie nicht zur Begründung gemeinsamer Werte taugen, das Individuum nicht wie in einem Gefängnis halten, es weder determinieren noch wie eine Münze ein für allemal prägen.
Charles Taylor, der die Multikulturalismus-Ideologie begründet hat, war Kommunitarist, das heißt, er geht nicht wie in unserem Grundgesetz von Individuen aus, sondern von kulturellen Kollektiven. In Frankreich haben Universalisten, die auf den individuell einklagbaren Bürger-, Frauen- und Menschenrechten bestanden, und Kommunitaristen, für die nicht das Individuum, sondern nur die Gruppe zählt, in das es hineingeboren wird, in den 1980er Jahren heftige Debatten geführt, die hierzulande leider kaum Beachtung fanden. Ursprünglich kam der Streit aus dem anglo-amerikanischen Raum, wo der Kommunitarismus als eine Art Antwort – man könnte auch sagen: Angriff – auf den Liberalismus von John Rawls entstanden war, dessen Vorstellungen von Gerechtigkeit sich an einem Individuum orientieren, das sich in selbstgewählten (!) Gruppen – Bürgerinitiativen, Parteien, Gewerkschaften etc. – mit anderen Individuen zusammentut, um gemeinsame Interessen durchzusetzen.
Noch einmal: Wir werden alle in Gruppen hineingeboren, die wir uns nicht ausgesucht haben – Ethnie, Religion, Kultur, soziales Milieu etc. -, können das aber reflektieren, uns mit unserer Herkunft auseinandersetzen, uns dazu bekennen, uns davon lösen, aus unserer Herkunft herauswachsen, das Herkunftsmilieu verändern, kritisieren, verlassen oder aus ihm Kraft beziehen. Wie auch immer wir uns zu unserer Herkunft verhalten, sie ist kein Schicksal, das uns in irgendeiner Weise und bis an unser Lebensende festlegen würde. Denn erstens sind diese Geburtsgruppen keineswegs so monolithisch oder – so stellte sie sich Johann Gottfried Herder vor – organisch, wie die Kommunitaristen uns weismachen. Und zweitens bewegen wir uns mit ihnen in einem vorpolitischen Raum, weshalb Rawls sie aus guten Gründen und völlig zu Recht nicht weiter beachtete. Als Liberaler setzte er voraus, dass wir uns unter den Bedingungen westlicher Demokratien spätestens ab dem Schuleintritt frei entwickeln und entfalten, unsere eigenen Entscheidungen treffen und mit der Volljährigkeit auch unsere eigenen Wege gehen können.
Doch das Multikulturalismus-Konzept und die Kommunitaristen sehen uns als Kollektivwesen, die sich den Regeln, Normen und Werten unserer Herkunftsmilieus entsprechend zu verhalten haben. Ja, es müftelt gewaltig in diesen ungelüfteten Vorstellungswelten, die sich wie Käseglocken über unsere Herkünfte senken und uns zwingen, verbrauchte Gefühle zu fühlen und abgestandene Gedanken zu denken.
Folgten wir weiter der Multikulturalismus-Ideologie, müssten wir eine Paralleljustiz von Friedensrichtern und die Scharia akzeptieren, die zwar für Nichtmuslime nicht bindend wäre und nicht gelten würde, den Nachbarsjungen aber dazu zwingen würde, seine Schwester zu kontrollieren, die keineswegs die gleichen Chancen und Rechte wie ihr Bruder haben dürfte. Wir müssten parallele Sozialstrukturen, Clan- und Stammeskulturen, kurzum eine Parallelgesellschaft anerkennen, in der nicht das Individuum Rechte hat, sondern eine Großfamilie, die dann darüber entscheidet, wer wen heiratet, wer mit wem Umgang hat und wer sich wo und wie bewegen darf und was wessen Beute sein darf und was nicht, wer wessen Feind und wer wessen Freund ist.
Unsere Verfassung, die weder einen Ständestaat mit Proporzzuteilung für Religionsgruppen, „Klassen“angehörige, Vertreter von Hautfarben oder sexuellen Orientierungen vorsieht noch eine geschlechterparitätische Aufteilung staatlicher Ämter – es ist denkbar, dass mal mehr kompetente Frauen, mal mehr kompetente Männer Ämter besetzen können, denn entscheidend sind Qualifikation und Eignung -, unsere Verfassung also wäre mit der Einführung von Multikulturalismus und Kommunitarismus passé. Integration sowieso.
Herkunftsmilieus, Geschlecht und sexuelle Orientierung lassen sich in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung wie der unseren, sobald die Gleichberechtigung einmal verbrieft ist und diskriminierende Gesetze und Verordnungen abgeschafft sind, nicht weiter politisieren. Multikulturalismus ist antidemokratische und illiberale Identitätspolitik. Das hatte Seyran Ates mit ihrem Buch über den „Multikulti-Irrtum“ von 2007 und zuletzt Cinzia Sciuto in ihrem Buch über die „Fallen des Multikulturalismus“ von 2020 klargestellt. Offenkundig werden solche Bücher nicht nur von Grünen, Sozial- und Christdemokraten hartnäckig ignoriert, sondern auch von Wirtschaftsjournalisten wie Ursula Weidenfeld, die Ghadbans Ausführungen bei „Lanz“ schlicht nicht verstand.
Warum aber ist Multikulturalismus eine bloß farbenfrohere Variante des Rechtsextremismus? Ganz einfach, weil sich hierzulande außer der AfD wahrscheinlich kaum noch jemand auf eine enggeführte Vorstellung deutscher Nationalkultur – einer Art Germanomanie – verpflichten lassen möchte, die uns Stammesbewusstsein abverlangt, Volkstanz und Trachten aufnötigt, T-Hemden statt T-Shirts und elektronische Mitteilungen statt E-Mails oktroyiert – es ist so schlimm wie Gendern und woke Sprache, das perfekte Pendant, glauben Sie mir, egal, was Frau Weidel ins Parteiprogramm schreibt. Man könnte auch sagen, es wäre wie Putin mit Judenhass. Wegen mir auch wie Erdogan und Graue Wölfe in einem, wobei sich dann zum Judenhass noch der Hass auf Armenier, Jesiden, Alewiten, Aramäer und Kurden gesellen würde.
Würden Sie in einem solchen Staat und in einer solchen Gesellschaft leben wollen? Ich nicht.