Transfrauen? Viele junge Erwachsene der neunziger Jahre liebten den „Kinks“-Song „Lola“ von 1970, liebten Amanda Lear und Hits wie „Follow Me“- eine geniale Mischung aus „Faust“-Adaption und Geschlechtertransition -, Georgette Dee, Lilo Wanders und Pedro Almodovars grandioses Melodram „Alles über meine Mutter“ von 1999. Transsexuelle Figuren wie Agrado und Lola gehören dort selbstverständlich zum Alltagsleben der Krankenschwester Manuela, der aufopferungsvollen Maria Rosa mit ihrem dementen (= abwesenden) Vater und ihrer engherzigen Mutter, der Theaterdiva Huma mit ihrer drogenabhängigen Liebschaft Nina. Wie im wirklichen Leben sind ausnahmslos alle Figuren ambivalent. „Alles über meine Mutter“ – eine titelgebende Anspielung auf die Tragikomödie „All about Eve“ (1950) von Joseph L. Mankiewicz mit Bette Davis und Anne Baxter, die Manuela und ihr siebzehnjähriger Sohn Esteban eingangs gemeinsam im Fernsehen anschauen – ist auch deshalb so meisterhaft, weil über zahllose Film- und Theaterzitate gezeigt wird, dass und wie wir alle immer auch andere nachahmen und Rollen spielen, vor allem soziale Geschlechterrollen. Lola ist der leibliche Vater der beiden Estebans, Manuela und Maria Rosa jeweils ihre leiblichen Mütter. Für das soziale Geschlecht ist das biologische nicht entscheidend, für die körperliche Gesundheit, für Krankheiten, für Geburt und Tod aber ziemlich zentral. Daran lässt der Film nicht den geringsten Zweifel.
Alles Kunstfiguren, gewiss, die immerhin belegen, dass der ebenfalls brillante Thriller „Das Schweigen der Lämmer“ von 1991 das Bild transsexueller Menschen in den neunziger Jahren nicht prägte, weil er das auch gar nicht konnte. Denn: Erstens sagt FBI-Agentin Starling im Dialog mit Hanibal Lecter ausdrücklich, dass Transsexuelle gewöhnlich nicht aggressiv und gewalttätig sind. Zweitens ist das Schmetterlingsmotiv – Verpuppung und Verwandlung – das entscheidende Moment und nicht der Wechsel des Geschlechts. Drittens erklärt Lecter, dass es sich beim gesuchten Mörder um jemanden handeln müsse, dessen Ansuchen um eine operative Geschlechtsangleichung abgelehnt worden sein wird, weil er offenkundig nicht an einer Geschlechtsdysphorie oder Genderinkongruenz leiden würde, also gerade kein (!) transsexueller Mensch sei. Die Sehnsucht des Mörders Jamie Gumb alias „Buffalo Bill“ nach einem Identitätswechsel im „Schweigen der Lämmer“ hat einen ganz anderen Grund als denjenigen, den transsexuelle Menschen haben, wenn sie die unerträgliche Spannung zwischen ihrem abgelehnten Geburtsgeschlecht und der ersehnten Geschlechtszugehörigkeit aufzulösen anstreben. Die Filmfigur des Mörders will sich selber und damit seine ganze Persönlichkeit loswerden, Transsexuelle dagegen nur ihr Geschlecht. Gumb will raus aus seiner alten eigenen Haut hinein in eine neue fremde, Transsexuelle aber ihre eigene Haut neu formen. Diese Unterscheidung zwischen dem Fluchtwunsch des Mörders aus seinem Ich auf der einen Seite und dem Streben Transsexueller nach einer Geschlechtsangleichung auf der anderen, verdeutlicht der Film mehrmals verbal und visuell.
Kunst sagt uns nie etwas darüber, wie etwas faktisch gewesen ist, sondern immer nur darüber, wie zur Zeit ihrer Entstehung faktisch gedacht und gefühlt worden ist und welcher manchmal äußerst umwegige, manchmal indirekte, manchmal schnörkellosere Bezug zu ihr besteht. Dabei war und ist Kunst nie einfach Ausdruck von Gedanken und Gefühlen, sondern ihre jeweils recht spezielle Verarbeitung.
In der Kunst sind Transmenschen nun schon jahrzehntelang präsent und dies gerade nicht als Feindbild. Das sagt freilich nichts über ihre faktische Akzeptanz im Alltagsleben. Mit einem halben Prozent am Bevölkerungsanteil dürften sie ihren exotischen Status behalten, weil nur wenige Menschen überhaupt die Möglichkeit bekommen, ihnen persönlich zu begegnen. Mit der Tatsache, dass es vermutlich ebenfalls immer Leute geben wird, die die bloße Existenz von Transmenschen überfordert, müssen wir leben. Aufhören, von Frauen, Männern, Müttern, Vätern zu sprechen, sollten wir nicht.
Das in Deutschland aktuell noch geltende, für Betroffene zeit- und kostenintensive Transsexuellengesetz abzuschaffen, ist eine gute Idee. Auf jegliche Begutachtung eines Wunschs nach Namens- und Personenstandsänderung zu verzichten, ist jedoch grob fahrlässig. Psychiater und Psychologen sind – wie Hannibal Lecter, by the way – befähigt zu unterscheiden, was Menschen warum und wozu bewegt. Deshalb gibt es die Gespräche und Befragungen, auf deren Grundlage zwei unabhängige Gutachter und ein Richter bislang darüber entscheiden, ob jemand seine Geschlechtszugehörigkeit wechseln darf oder nicht. Es geht darum, transsexuelle Menschen von denen zu unterscheiden, die das nicht sind und dies nur vorgeben, um diesen Status zu missbrauchen, oder aber irrtümlich zulegen, um der Klärung anderer Probleme auszuweichen. Nicht transsexuelle Menschen, sondern die, die es nicht sind, sind das Problem!
Es geht bei den Einsprüchen gegen das von der Bundesregierung geplante Selbstbestimmungsgesetz überhaupt nicht um Transsexuelle, sondern um die Leute, die lediglich auf diesem Ticket reisen und es zweckentfremden. Die gilt es herauszufiltern. Das erledigen Psychologen mit Fachexpertise in den meisten Fällen wahrscheinlich im Handumdrehen. Ich sehe nicht, weshalb es demütigend, diskriminierend oder gar eine Verletzung der Menschenwürde sein sollte, ein entsprechendes Gutachten vorlegen zu müssen, wenn man seinen Geschlechtseintrag ändern möchte. Auch Frauenrechte sind nicht vom Himmel gefallen. In der westlichen Moderne wurden sie von Frauen fast zwei Jahrhunderte lang erkämpft. Es ist übrigens auch kein Menschenrecht, sein Geschlecht bestimmen oder umstandslos per Sprechakt ändern zu dürfen.
Vor zwei Jahren schrieben ein paar Leute und ich eine Petition zum politischen Islam. Weil wir von „Europäerinnen und Europäern“ gesprochen hatten, attestierten uns ein paar Monate später irgendwelche Spaßvögel auf einer Website mit Fake-Adresse Transfeindlichkeit. Darüber lachten wir. Genauso lächerlich erscheinen mir bis heute gleichlautende Vorwürfe gegen die Harry Potter-Autorin J.K. Rowling oder die Philosophin Kathleen Stock, für die dergleichen allerdings einschneidende Konsequenzen hatte. Von Morddrohungen über Forderungen nach Boykott oder Entlassung bis hin zu Beschimpfungen und falschen Vorwürfen, wurden sie mit viel „Hass und Hetze“ überzogen. Rowling und Stock sind etabliert. Die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht ist das nicht gewesen, als sie im Sommer letzten Jahres unter den Beschuss von Transaktivisten geriet, weil sie anlässlich der Nacht der Wissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag über den Unterschied zwischen Sex und Gender sowie die wissenschaftlich weithin akzeptierte Tatsache sprechen wollte – und später auch sprach -, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter und die eine Ausnahme der Intersexualität gibt, die allerdings kein eigenes Geschlecht, sondern eine Mischung aus beiden darstellt. Vollbrecht wurde daraufhin als transfeindlich, als „Rechte“, als „Nazi“, als „umstritten“ usw. beschimpft.
Alle drei Frauen verbindet, dass sie nicht bereit sind, biologische Fakten zu ignorieren. „Gender“ bezeichnet nur die sprachliche und soziale Ebene der Geschlechterordnung. Dort kann gern Vielfalt ohne ende herrschen. Auf der biologischen Ebene aber nicht. Und die ist nicht nur für die Fortpflanzung wichtig, sondern auch für die körperliche und psychische Gesundheit.
Stark verkürzt: Der Trick in Judith Butlers Intervention mit „Gender Trouble“bestand in einer simplen Umkehrung: Deduzierten die frühen Forschungen zur Sexualität soziale Geschlechterrollen (Stereotype) und sexuelle Orientierungen aus dem biologischen Geschlecht, weshalb sie alles, was sich nicht linear daraus ergab und in Übereinstimmung mit den Geschlechternormen befand, zu pathologischen Abweichungen erklärten, drehte Butlerdas Ganze um. Für sie hatte das biologische Geschlecht fortan nicht nur als Prämisse ausgedient, sondern sollte nur noch eine unter mehreren Variablen der „Geschlechtsidentität“ sein, aus der sich – das ist der Hintergrund der Rede von den durch Ärzte und Hebammen zugewiesenen Geschlechtern – die Geschlechtszugehörigkeit ergeben soll. Darum auch Begriffe wie „TransIDENT“ statt Transsexualität. Mitmachen muss man das nicht. Es ergibt keinen Sinn, Geschlecht zu einer Frage der Selbst-Identifikation zu erklären und der Willkür einzelner anheimzustellen.
Wenn 99,5 Prozent der Bevölkerung umstandslos Frauen und Männer sind, gibt es auch keinen Grund, auf diese Begriffe zu verzichten. Transmenschen helfen uns dabei, starre Geschlechterrollen hinter uns zu lassen. Dafür lieben wir sie. Als Frauen und Männer.