Die klassische Geschlechterforschung, die sich einst im Zuge der zweiten Frauenbewegung etabliert hatte, existiert an deutschen Universitäten kaum noch. Sie wurde durch Gender Studies nicht etwa ergänzt – was für den Austausch von Argumenten im akademischen Milieu ja sinnvoll gewesen wäre -, sondern verdrängt. Mit vernichtenden Gutachten stellte man solide arbeitende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kalt – Wer evaluiert eigentlich die Gutachter? – und damit auch die Pluralität im Fach. Auf einmal gab es nur noch Gender Studies, deren Grundlage die Bücher von Judith Butler sind.
Als ich sie in den neunziger Jahren las, war ich angetan, fand viele der dort aufgeworfenen Fragen anregend und diskussionswürdig. „Gender Trouble“ oder „Bodies that matter“ boten Stoff für endlose akademische Debatten. Mir wäre nicht im Traum eingefallen, dass man anstatt diese zu führen, Butlers Positionen zu einer Art heiligem Kanon erklärt, der künftig das Forschen ersetzen würde. Genau das aber ist passiert.
Der linguistic turn seit Anfang des 20. Jahrhunderts – der schlichte Befund, dass Sprache unsere Erkenntnis strukturiert – war dabei nicht das Problem, denn er besagt ja nur, dass alles, was wir denken, fühlen und tun unauflöslich mit Sprache verbunden ist, aber keinesfalls, dass alles „nur Text“, „nur Zeichen“, „nur Sprache“ sei. Im Gegenteil, denn erstens ist Sprache selber materiell und zweitens hat sie ja lediglich unverbrüchlich Anteil an Materie ohne sie – das wäre totalitär – in Gänze zu erfassen oder auszumachen. So hatte ich Butlers „Bodies that matter“ verstanden. So war es aber nicht gemeint.
In „Gender Trouble“ hätte ich es bereits merken müssen. Dort verklammert Butler Sprache, Repräsentation und Politik auf unzulässige Weise miteinander. Unzulässig, weil Repräsentation in der Sprache etwas völlig anderes ist als Repräsentation in der Politik. Zwar besteht politisches Handeln immer aus Sprechakten, aber das gilt für jeden Verwaltungsakt in einer Behörde, jedes Gerichtsverfahren, jede Schulstunde, jedes Einstellungsgespräch, jede Entlassung und jedes Meeting in einem Wirtschaftsunternehmen, jeden Arztbesuch und jeden Einkauf in einer Bäckerei. Zwischen Sprache, Repräsentation und Politik gibt es keinen privilegierten Zusammenhang. Worauf Butler mit ihrer falschen Zusammenführung hinauswollte, hat kürzlich die Geschlechterforscherin Barbara Holland-Cunz überzeugend in einem Aufsatz dargelegt: Die Rückkehr zum später durch wissenschaftliche Professionalisierung überwundenen Aktivismus der frühen Frauenforschung Ende der siebziger Jahre. Wissenschaft unter dem Primat der Politik – politische Agendawissenschaft – ist Ideologie, keine Wissenschaft. Sie ist das, was wir in Westdeutschland nach 1945 und in Ostdeutschland nach 1989 überwunden geglaubt hatten. In der Sowjetunion war sie bis Anfang der neunziger Jahre üblich und dürfte es in den Kultur- und Sozialwissenschaften in Russland unter Putin wieder werden.
Butlers frühe Bücher bestehen aus einer oft, wenn auch nicht immer scharfsinnigen Auseinandersetzung mit Berühmtheiten wie Jacques Lacan oder Sigmund Freud, Claude Levi-Strauss oder Pierre Bourdieu, Simone de Beauvoir oder Julia Kristeva, die sie – ganz wie Kunstkritiker Reger in Thomas Bernhards „Alte Meister“ – am laufenden Band fachmännisch bei Inkohärenzen, Widersprüchen, Übersehenem oder nicht zu Ende Gedachtem usw. erwischt – wäre je eine Erkenntnis, ein Befund oder Text vollkommen gewesen, wäre Wissenschaft entbehrlich. Butlers diskussionswürdige Kritik machte einen Gutteil der Anziehungskraft ihrer Bücher in den neunziger Jahren aus.
Bis Butler Anfang der Nullerjahre gegen den Universalismus und die Menschenrechte zu polemisieren begann, Hamas und Hisbollah zu Teilen der globalen Linken – was soll das eigentlich sein? So etwas wie die Kommunistische Internationale? – erklärte und die Burka zum „Bollwerk“ gegen den Westen. Da wurde klar, dass Butlers Denken zutiefst inhuman, juden- und frauenfeindlich ist.
Der Kern von Butlers Beitrag zum Denken über Geschlechter ist im Rückspiegel betrachtet erstens banal und zweitens eine Art Hyper-Idealismus, der den alten – und völlig zu Recht aus der Mode gekommenen – deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts deutlich toppt. Denn dass das Körpergeschlecht, die Geschlechterrolle und die sexuelle Orientierung einander nicht decken müssen, weiß die Menschheit seit dem Altertum. Und dass es immer einen, allerdings kleinen Prozentsatz an Menschen gibt, deren Körpergeschlecht uneindeutig ist, das – wenn gewünscht – bleiben kann oder darf, ist auch nicht brandneu. Dafür sensibilisiert zu haben, kann man Butler gern zugutehalten.
Diese Uneindeutigkeit und Unsicherheit des biologischen Geschlechts aber umgekehrt zum Regelfall und zum Massenphänomen zu erklären, ist empirisch nicht nachweisbarer, idealistischer Nonsens und bizarr. Und noch dazu medizinisch gefährlich, weil jeder Arzt und jede Ärztin in bestimmten Notsituationen – bei einem Herzinfarkt beispielsweise – Ihr körperliches Geschlecht kennen und sich auf dessen Eindeutigkeit verlassen können muss, wenn sie bestimmte Symptome deuten, die geschlechtsspezifisch ausfallen. Gleiches gilt für die Zusammenstellung und Dosierung bestimmter Medikamente. Gehört man zu den körperlich tatsächlich nichtbinären Menschen, die im Promillebereich existieren, geben Hausarzt oder -ärztin und Ihre Patientenakte darüber Auskunft. Geschlechtsspezifische Forschungen zu unterbinden, ist der blanke Wahnsinn. Und die geplante Self-ID schon aus medizinischer Sicht reiner Irrsinn.
Dass wiederum Geschlechterrollen – veraltet: das soziale Geschlecht – nicht binär sind, ist ein uralter Hut. Und völlig unproblematisch. Flaubert hielt sich für Emma Bovary und der Weltkriegsversehrte Septimus Warren Smith in „Mrs. Dalloway“ trägt die Züge von Virginia Woolf. Keine große Sache also.
Butler kann man als Philosophin bezeichnen, aber die Philosophie ist seit über zweihundert Jahren keine Königsdisziplin mehr. Und sollte das auch nie wieder werden! Wer noch immer nicht verstanden hat, warum, der lese „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von Karl Popper. Butlers Analysen fehlt jedes historische Wissen, jedes Verständnis von wissenschaftlicher Falsifizierbarkeit, jede Akzeptanz von Empirie, jede Vorstellung davon, dass ihr Denken begrenzt, zirkulär und totalitär sein könnte und aus meiner Sicht auch tatsächlich ist. Theoretiker, deren Denken keinerlei Rückkoppelung an die Empirie bedarf, sind beispielsweise Wissenschaftler der theoretischen Physik, denn sie kämen nie im Leben auf die Idee, ihre vorläufigen Befunde in Gesellschaftspraxis und Politik umsetzen zu wollen.
Die leichteste Übung, die totalitären Züge von Butlers Denken empirisch aufzuzeigen, ist ihr verstörendes Verhältnis zum Westen, zum Islamismus und zur Rolle von Frauen, Homosexuellen und Juden in der islamischen Welt. Bürger-, Frauen- und Menschenrechte? In butlers Augen alles demagogischer Firlefanz, obwohl sie diese Rechte tagtäglich als Bürgerin, als Frau, als Homosexuelle und als Jüdin in Anspruch nimmt und damit ganz gut lebt, während Burkaträgerinnen ihrer Freiheit, ihrer Rechte auf Bildung, Arbeit und sexuelle Selbstbestimmung beraubt sind, Frauen durch das Tragen des Kopftuchs ihre Anständigkeit beweisen müssen und mit unbedecktem Haar als Schlampen oder Freiwild angesehen werden, Homosexuelle von Häusern gestürzt werden oder von Kränen baumeln, dem Staat Israel täglich mit Vernichtung gedroht wird und Juden als Inbild des abgrundtief Bösen zum Abschuss freigegeben sind. Butler dämonisiert den Westen und romantisiert und verklärt die Geschlechter- und Familienverhältnisse in islamisch geprägten Ländern. Den Judenhass der islamischen Welt blendet sie gleich ganz aus.
Vom iranischen Mullah-Regime, das seine Mädchen und Frauen unter den Schleier zwingt, sie totschlägt, vergewaltigt und vergiftet, scheint Judith Butler nie gehört zu haben. Diese Ignoranz ist frauen- und menschenverachtend und dazu noch ein klarer Fall für die neue Meldestelle Antifeminismus, die Familienministerin Lisa Paus so großzügig finanziert.
Den öffentlichen Raum nach unliebsamen Meinungen zu scannen und Menschen zum Denunzieren aufzufordern, passt zum linkstotalitären Zug, den die Vertreterinnen der Gender Studies hierzulande seit über zwanzig Jahren an den Tag legen. Denn nicht die Kritiker der Gender Studies sind frauen- und homosexuellenfeindlich, antisemitisch, antidemokratisch und illiberal, sondern ihre Propagandisten.