Sehr geehrter Herr Kößler,
nachdem ich gestern die von Ihnen moderierte Sendung „Zur Diskussion“ gehört hatte, war ich ein wenig ratlos. Sie und Ihre Gesprächspartner sprachen über die Gefährdung der Demokratie ausschließlich von Rechts. Als hätten wir nicht seit dem 24. Februar 2022 eine mörderische Offensive von Putin-Russland gegen die souveräne Ukraine, die mit ihrer Selbstverteidigung zugleich die liberalen Demokratien Europas verteidigt! Gegen die Lieferung schwerer Waffen sind neben der AfD auch die LINKE, während sich Teile der SPD, zu der ich bis vor kurzem gehörte, ausdauernd sträuben, die Realität wahrzunehmen und die Ukraine ohne Zögern und tatkräftig zu unterstützen. Die Tatsache, dass auch Taiwan durch China umso gefährdeter ist, wenn Putin-Russland auch nur zur Hälfte mit seiner mörderischen Aggressionspolitik durchkommt, wurde bei Ihnen noch nicht mal angeschnitten. Ganz zu schweigen von den monatelangen mutigen Protesten der Iraner gegen das Mullah-Regime im Iran. Das, lieber Herr Kößler, sind die künftigen Garanten liberaler Demokratien: Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die Iraner und Iranerinnen, die jungen Menschen in Hongkong, die gegen den Zugriff des chinesischen Staates protestierten etc.pp Kein Wort zu ihnen in ihrer Sendung.
Statt dessen ging es abermals um Trump, der vor zwei Jahren glücklicherweise abgewählt wurde und jetzt durch die Zwischenwahlen erneut eine krachende Niederlage erlitten hat! Für mich das Zeichen einer noch immer funktionierenden US-Demokratie! Ja, Trump und der Trumpismus waren und sind demokratiegefährdend, vor allem weil sie die Institutionen auszuhöhlen bereit waren. Auch der rechtsextreme Sturm auf das Capitol war demokratiegefährdend. Hier jedoch haben sich die Demokraten – auch die republikanischen – und die demokratischen Institutionen abermals durchgesetzt und bewährt! Jair Bolsonaro ist ebenfalls abgewählt worden. Erneut ein Zeichen für eine funktionierende Demokratie, die sich ja nach Karl Popper dadurch auszeichnet, dass unblutige Regierungswechsel möglich sind. Beides ist in den USA und in Brasilien geschehen. Die Verhältnisse in beiden Ländern lassen sich auf die europäischen Demokratien überhaupt nicht übertragen. Trotzdem kreiste die halbe Diskussion um Donald Trumps längst erfolgreich abgewehrte Gefährdung der amerikanischen Demokratie. Fand ich absurd. .
Hätten Sie über Ungarn oder die polnische PIS-Regierung diskutiert, hätte ich das noch verstanden. Nichts davon in Ihrer Sendung. Hätten Sie einigermaßen ehrlich über den Zulauf bei den Schwedendemokraten oder über den Wahlsieg Melonis diskutiert, wäre ich noch mitgegangen. Beides ist ein hausgemachter Rechtsruck, der viel mit einer schlecht oder gar nicht funktionierenden Einwanderungspolitik zu tun hat. Eine gut funktionierende Einwanderungs- und Integrationspolitik würde den Rechtsextremen in beiden Ländern den Garaus machen.
Es ist auch barer Unsinn, dass der Umgang mit ethnischen und kulturellen Minderheiten darüber entscheidet, ob eine Demokratie funktioniert oder nicht. Der antisemitismus ist demokratiegefährdend, weil er seit zweitausend Jahren auf einem faktenresistenten Hirngespinst beruht. Alle anderen Minderheiten sind Vorurteilen ausgesetzt, die auf falschen Verallgemeinerungen beruhen, aber nicht auf Hirngespinsten, weshalb sie sich im Unterschied zur Judenfeindschaft durch Aufklärung aus der Welt schaffen lassen. Demokratiegefährdend ist rechte und linke Identitätspolitik gleichermaßen und beides widerspricht gleichermaßen unserem Grundgesetz, das besagt, dass kein INDIVIDUUM aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten benachteiligt oder bevorzugt (!) werden darf, weder autochthone Deutsche wie es die AfD will noch eingebürgerte Deutsche wie es einige (!) GRÜNE und Teile der SPD wollen. Beides würde das Grundgesetz aushebeln.
Die inzwischen rechtsextreme AfD ist demokratiegefährdend, Islamisten sind demokratiegefährdend und Linksextremisten sind das auch, die „Letzte Generation“ mit ihrer auch expressis verbis geäußerten Demokratieverachtung sind das ebenfalls.
Ihre Sendung schwebte weit hoch über der Empirie und erschien mir grotesk. Wenn sie den Ton angab über das kommende Jahresthema zur wehrhaften Demokratie, das ich für richtig wichtig halte, kann man sich die künftigen Dlf-Sendungen dazu sparen. Sie hätten das Thema schon vorab verfehlt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Sylke Kirschnick als entgeisterte Hörerin