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„Struktureller Antisemitismus“? Oder doch nur die alte Nummer mit der Ersetzungstheologie!

Marlene Schönberger, grüne Bundestagsabgeordnete, hat Mitte November den Vorwurf erhoben, auf der jüngsten Konferenz der „Denkfabrik Republik 21“ sei – namentlich von Kristina Schröder – struktureller Antisemitismus verbreitet worden. Das ist hanebüchener Unfug, aber das zu sagen reicht nicht aus, man muss auch klarstellen, warum das so ist. Schönberger plapperte einfach nach, was die Publizistin Carolin Emcke, eine „Wiederholungstäterin“ in Sachen antijüdische Ersetzungslogik, als Gastrednerin auf einem Grünen-Parteitag fabuliert hatte: Es würden nicht mehr die Juden, sondern Eliten Opfer von Verschwörungsfantasien. „Gestern die Juden, heute die Muslime“, schrieb Emcke 2011 nach dem Attentat des Rechtsterroristen Anders Breivik in der „Zeit“, erklärte damit den Judenhass für ein Phänomen der Vergangenheit und ersetzte Juden durch Muslime, wie das vor ihr schon der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz mit seiner Konferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“ getan hatte. Das ist eine „falsche Analogie“ (Monika Schwarz-Friesel und Evyatar Friesel), die einer Ersetzungslogik folgt, die so alt ist wie die christliche und später auch die islamische Judenfeindschaft selbst. Man könnte versucht sein, sie „strukturellen Antisemitismus“ zu nennen, scheut aber dann doch davor zurück, weil nichts schlichter ist, als einen Vorwurf mit dem gleichen (Gegen)Vorwurf zu kontern.
Was hat es erstens mit dem Begriff des „strukturellen Antisemitismus“ auf sich, den ich nicht verwenden würde. „Strukturell“ besagt, dass etwas durch Gesetzgebung, institutionelle Verfahren oder ideologisch fundiert ist. „Systemisch“ oder „institutionell“ werden als Synonyme gern gebraucht. Beim Antisemitismus traf das auf das Christentum und den Islam zu, die beide auf der Ersetzungslogik beruhten, sei es die Vorstellung eines „wahren“ oder „neuen Israel“, das Christen angeblich darstellen würden, sei es die Vorstellung eines „wahren“ Monotheismus, den Muslime als vermeintlich „wahre“ Erben des Bundes mit dem einen und einzigen Gott gegen Juden, aber auch mit einer gewissen Berechtigung gegen Christen (siehe Dreifaltigkeit, christologisches Modell von Jesus als Gott) in Stellung brachten und immer noch bringen. Ersetzungstheologische Logiken sind übrigens immer Vernichtungslogiken, sei es durch christliche Taufe oder durch Übertritt zum Islam, sei es durch massive Ausgrenzung, sei es durch Tötung oder Mord. In Juden das Böse schlechthin, das Teuflische oder das absolute und menschenfeindliche Gegenprinzip zu sehen, sollte all das rechtfertigen und war auch der Grund dafür, dass man über zwei Jahrtausende hinweg Juden für alles verantwortlich machte, was scheinbar oder faktisch schieflief in der Welt. Deshalb nannte der israelische Antisemitismusforscher Robert S. Wistrich Antisemitismus den „ältesten Hass der Welt“. Es gibt keine vergleichbar beständige und mörderische Aversion wie den Judenhass. Schon deshalb können heute weder Christen oder Muslime noch irgendwer sonst den Platz verfolgter und vernichteter Juden einnehmen. Unabhängig davon, dass es die Shoah gegeben hat.
Zu den einflussreichsten politischen Ideologien bzw. politischen Religionen, die im 20. Jahrhundert in Europa viel Unheil angerichtet haben, gehören der Faschismus/Nationalsozialismus und der Staatssozialismus/Kommunismus. Beide waren trotz ihres erklärten Atheismus christlich grundiert. Die Nationalsozialisten waren strukturelle Antisemiten. Auf sie treffen alle Merkmale zu, die eine Rede von „strukturellen“ Gründen sinnvoll machen: Gesetzgebung, institutionelle Verfahren und Ideologie waren antisemitisch. Der Kommunismus ist wegen seiner antikapitalistischen Ideologie gleichfalls strukturell antisemitisch, auch wenn es in keinem staatssozialistischen Land je antijüdische Gesetze gegeben hat und ihre institutionellen Verfahren Juden niemals ausschlossen. Hier lag das strukturelle Moment in der Verknüpfung von Judentum und Kapitalismus. Institutionalisiert war der Antisemitismus auch in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten in Form des Antizionismus, sprich: der Israelfeindlichkeit. Er richtete sich also nicht gegen die eigenen jüdischen Staatsbürger, sondern gegen Israel als den kollektiven Juden (Léon Poliakov). Es wäre Unsinn, alle Kommunisten zu Antisemiten zu erklären, zumal es Zeiten gegeben hat, in denen es zwar unvernünftig, aber immerhin noch verständlich war, wenn man Kommunist wurde. Die 1920/30er Jahre gehören dazu. Spätestens mit den Moskauer Schauprozessen, der Verfolgung Leo Trotzkis, dem Slansky-Prozess in der CSSR und den antizionistischen Kampagnen im Ostblock sollten die Leute aufgewacht sein und gemerkt haben, dass sie einem grausamen Irrtum aufgesessen waren. So viel zum Begriff des strukturellen Antisemitismus, auf den man aus meiner Sicht verzichten kann und sollte, weil man statt dessen und viel klarer benennen kann, worin das judenfeindliche Element jeweils besteht.
Zweitens scheint Frau Schönberger einem grotesken Miss(t)verständnis erlegen zu sein, wenn sie eine Formel wie „Antisemitismus ohne Juden“ gebraucht. Die Wendung ist keine Ersetzungsfigur. Sie besagt lediglich a) dass es Codes wie „Ostküste“ gibt, die eindeutig auf Juden verweisen, und b) dass es in christianisierten und islamisierten Ländern, in denen keine Juden leben oder je gelebt haben, eine tief verankerte Judenfeindschaft geben kann, weil die christliche und islamische Traditionsliteratur unausgesetzt ‚Juden‘ fabuliert und die Bildungseliten diese antijüdischen Fantasien seit Jahrhunderten in dieser oder jener, den Zeitläuften angepassten Formel und Wendung wiederholen. Begriffe wie „Minderheit“ oder „Elite“ gehören nicht zu den Sprachcodes der Judenfeindschaft. Juden wurden nie angegriffen, verfolgt oder ermordet, weil sie eine Minderheit gewesen oder zur Elite gezählt worden wären – dann wäre in der Tat jeder Angehörige einer Minderheit oder einer Elite ein Jude, was ziemlicher Nonsens ist -, sondern weil das Wort „Jude“ im kulturellen Gedächtnis mit „Macht“, „Verschwörung“, „Geld“, „Verrat“, „Schlauheit“ oder „Mord“ verknüpft ist, nicht aber umgekehrt die aufgezählten Worte mit dem Wort „Jude“! Anders gesagt: Immer dann, wenn von Juden die Rede ist, stellen sich weitere Worte mit Assoziationsketten ein. Wenn aber umgekehrt das Wort „Macht“ fällt, stellt sich bestenfalls bei Antisemiten das Wort „Jude“ ein und nicht etwa die Namen Friedrich, der Große, Napoleon, Stalin, Hitler etc.pp Und wenn das Wort „Geld“ fällt, stellen sich bei Antisemiten nicht die Namen Fugger, Medici, Rockefeller, Morgan, Ford, Krupp, Hugo Stinnes oder Alfred Hugenberg ein, sondern der Name Rothschild. Das ist mit den Sprachgebrauchsmustern gemeint, die übrigens nicht Sartre oder sonst wer analysiert hat, sondern die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel.
Drittens sprach weder Kristina Schröder noch irgendwer anderes auf der Konferenz, die ich mir auf youtube angesehen habe, von „dunklen Mächten“ oder sonst einer Verschwörung. Eine Verschwörungsfantasie ist eine solche, wenn eine Gruppe oder Personen für etwas verantwortlich gemacht werden, wofür sie faktisch nicht verantwortlich sind: Juden für die Pest oder eine nicht funktionierende Trinkwasserversorgung, die USA für 9/11 usw. Verschwörungsfantasien sind meist, aber nicht immer antisemitisch. Es stimmt, dass die Evangelien, die Juden für die Verurteilung und Kreuzigung von Jesus verantwortlich gemacht haben, die Blaupause für fast alle späteren Verschwörungsfantasien geliefert haben. Dessen ungeachtet gibt es faktisch Intrigen, die man wegen mir auch Verabredungen oder Verschwörungen nennen kann. Ein Blick in die Geschichte an den europäischen Höfen und die Literatur von Shakespeare bis Agatha Christie fördert Erstaunliches zutage, von Geheimdienstberichten ganz zu schweigen. Was war der Hitler-Stalin-Pakt mit seinem Geheimprotokoll anderes als eine Verschwörung gegen Polen?! Was war die Platzierung eines SED-Spitzels in der unmittelbaren Umgebung von Willy Brandt – die Guillaume-Affäre – anderes als eine politische Intrige?! Man könnte sie mit einiger Berechtigung auch eine SED-Verschwörung gegen die bundesdeutsche Sozialdemokratie nennen. Alfred Kantorowicz schrieb in seinem Tagebuch immer wieder davon, dass nicht die Sowjets, sondern höchste SED-Kader dafür sorgten, dass seine Zeitschrift „Ost und West“ eingestellt werden musste. Und das stimmte, wie ein Blick in die Sitzungsprotokolle des Kleinen Sekretariats des Politbüros nach der Wende belegte. Bei Kantorowicz las sich die Anklage wie eine Verschwörungsfantasie, obwohl jeder, der wollte, schon damals davon ausgehen konnte, dass der einstige Kommunist die SED-Entscheidungsprozeduren und Durchstellwege kannte. Und es ist keinesfalls so, dass sich das interne Leben demokratischer Parteien heute intrigenfrei gestalten würde. Das ist im Arbeitsleben nicht anders. Überall dort, wo um Einfluss und Machtpositionen – das heißt in liberalen Demokratien immer: Entscheidungspositionen – gekämpft wird, finden sich Intrigen, geheime Absprachen hinter dem Rücken und zum Schaden anderer usw. Um all das antisemitisch zu nennen, muss man schon selber einiges geschluckt haben vom Gift, das sich Judenhass nennt, ganz einfach, weil man solche Kämpfe und Konflikte dann immer und zwangsläufig mit Juden assoziiert! Ob es sich um eine Verschwörungsfantasie handelt oder um eine Intrige, geheime Absprache etc.pp entscheiden die Fakten. Übrigens ist es eine Verschwörungsfantasie zu behaupten, dass sich die Mehrheitsgesellschaft gegen die Minderheit von Muslimen im Land verabredet hätte, wie Wolfgang Benz das seinerzeit auszudrücken pflegte, und es ist auch eine Verschwörungsfantasie zu behaupten, Muslime würden hierzulande in Triage-Situationen infolge der Corona-Pandemie automatisch hintangestellt, wie Ferda Ataman das seinerzeit auf Twitter getan hat. Ob es übrigens eine Verschwörungsfantasie ist, wenn Nikita Dhawan im Deutschlandfunk behauptet, dass sie immer dann bei Berufungen zu kurz kam, wenn „Weiße Feministinnen“ in den Berufungskommissionen saßen, sei dahingestellt.
Viertens ist zur Metapher der Steuerung zu sagen, dass sie immer nur dann antisemitisch ist, wenn sie zugleich mit illegitimer Machtausübung und Omnipotenzfantasien verknüpft wird. Gerade das aber ist beim Öffentlichen Rundfunk und an Universitäten nicht der Fall. Agendajournalisten und Agendawissenschaftler – wie Sandra Kostner sie wegen ihrer Orientierung an der Durchsetzung politisch-ideologischer Ziele nennt – üben ihre Macht weder illegitim in ihren Positionen aus noch sind sie allmächtig. Man kann, ja muss sie kritisieren. Richtig ist, dass sie eine einschüchternde Wirkung auf andere Menschen ausüben. Das können sie allerdings nur, so lange ihnen niemand widerspricht, eine anderslautende Meinung oder Forschungsposition platziert. Und zwar an ebenso prominenter Stelle! Der Eindruck des Gesteuertseins entsteht immer dann, wenn die für liberale Demokratien essentielle Pluralität fehlt. Und das tut sie in dem Moment, in dem andere Meinungen und Positionen als „rechts“, „AfD-nah“, „rassistisch“ – man denke an die Reaktion auf die Reaktion auf die Kölner Silvesternacht -, „islamophob“ etc.pp diffamiert werden, was reichlich geschah und bis heute geschieht. Über die Aufnahme arabischer Flüchtlinge konnte man verschiedener Ansicht sein, ohne Positionen der AfD auch nur zu streifen, sich gar in ihrer Nähe zu bewegen. Wie alle Rechtsaußenparteien vereinnahmt die AfD am laufenden Band Positionen von Menschen, die sich kritisch mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik oder dem politischen Islam auseinandergesetzt haben. Anstatt diese Instrumentalisierung seitens der AfD zurückzuweisen, erklären Agendajournalisten oder Agendawissenschaftler die instrumentalisierten Positionen und die, die sie vertreten, für „umstritten“, für „rechts“ etc.pp Am Ende existieren nur noch zwei Positionen, eine als legitim erachtete – und das ist dann die der Journalisten und Wissenschaftler mit Agenda, die eine Minderheit in Medien und Universitäten darstellen dürften -, und eine verworfene, die man dann in der oben skizzierten Weise diffamiert. Ergo gilt nur noch eine Meinung und Position als gelände- und salonfähig. Das erinnert eher an das SED-Politbüro als an eine freie Debattenkultur in einer liberalen Demokratie. All das hat weniger mit direkter Machtausübung zu tun, als vielmehr mit Konformitätsdruck, Opportunismus, mangelnder Konfliktfähigkeit und -freude bei vermutlich nicht wenigen in den Redaktionen und an den Unis. Dass jemand seinen Job verliert, weil er oder sie „ein Problem mit dem Islam hat“ oder als rechts verunglimpft wird, weil er oder sie die „Willkommenskultur“ von 2015/16 so problematisch fand – Stichwort Verwechslung von Empathie mit Sentimentalität – wie sie es am Ende gewesen ist, mag auch deshalb seltener vorkommen, weil nicht jeder und jede dazu bereit ist, sich diesbezüglich offen zu äußern. Ich erinnere mich noch gut daran, gebeten worden zu sein, das YouTube-Video zu einer Diskussionsrunde unter anderen zum Islam nicht zu verlinken, weil eine der Teilnehmerinnen Angst vor Konsequenzen in ihrer Berufslaufbahn (Uni) hatte. Last not least: Personalentscheidungen laufen noch viel zu oft nach dem similar to me-Prinzip ab. Das war einer der Gründe, warum Frauen so lange Schwierigkeiten hatten, die gläserne Decke zu durchstoßen oder auf Professuren berufen zu werden.
Fünftens ist zur Personalisierung zu sagen, dass diese Frage beim Antisemitismus gleichfalls nicht von Juden auf andere übertragen werden kann. Denn ohne Personalisierung ist die Übernahme von Verantwortung dort, wo sie belegbar ist, gar nicht zu denken. Für die verfehlte Russland-Politik der letzten zwanzig Jahre sind diejenigen Politiker verantwortlich und haftbar zu machen, die als gewählte und damit legitimierte und schließlich in Ämter berufene Volksvertreter entsprechende Entscheidungen getroffen haben. In Medien diejenigen Intendanten und Redakteure, die qua Amt und Position Meinungspluralität entweder fördern oder aber – freundlich formuliert – gerade darauf weniger Wert legen. Verantwortlich zu machen sind sie dafür im einen wie im anderen Fall. Und was die Unis betrifft, so kann man sich die Entscheidungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Publikationslisten der berufenen Professorinnen und Professoren in den Kultur- und Sozialwissenschaften sowie die entsprechenden Kommissionen ansehen, um herauszufinden, welche Forschungsprojekte gefördert worden sind und wer mit welcher Begründung berufen worden ist und wer nicht. Zumindest eine stichprobenhafte Untersuchung könnte Auskunft darüber geben, was und wer gefördert wird und was und wer nicht.
Abschließend würde ich Frau Schönberger empfehlen, Adorno und Horkheimer selber zu lesen und zu verstehen sowie auch ideengeschichtlich einzuordnen, anstatt die Kriterien für das, was Antisemitismus ist und was nicht, aus zweiter und dritter Hand zu beziehen und dabei – wie oben gezeigt – gründlich miss(t)zuverstehen. Adorno wie Horkheimer dachten übrigens noch marxistisch und folgten Freuds Psychoanalyse, als sie die „Dialektik der Aufklärung“ verfassten. An Kristina Schröders Äußerungen hätten sie wahrscheinlich keinen Anstoß genommen. Und noch was: Beide empfahlen gegen Antisemitismus Selbstreflexion.