Ist der Westen noch zu retten? Hat er sich außenpolitisch verzockt? Wie sieht es im Innern etablierter liberaler Demokratien aus? Auf Fragen wie diese gibt die Frankfurter Ethnologin und Islamforscherin Susanne Schröter in „Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass“ schlüssig Antwort. Die neun Kapitel des wissenschaftlich fundierten Debattenbuchs sind reich an Denkanstößen und fußen auf Fakten. Es beginnt mit dem Überfall Putin-Russlands auf die Ukraine im Februar dieses Jahres und endet mit dem Abschnitt „Freiheit“ im Kapitel „Zeitenwende“. Dazwischen finden das Desaster in Afghanistan und Mali, der Islamismus, die Lufthoheit postkolonialer Studien in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten westlicher Universitäten, identitätspolitische Kulturkämpfe, die Janusköpfigkeit deutscher Migrationspolitik und die überlangen Schatten einer Allianz der Neuen Linken mit dem Linkstotalitarismus Platz.
An Schröters Argumentation besticht der klar konturierte Zusammenhang zwischen der Verharmlosung Putin-Russlands und des politischen Islam durch westliche Eliten. Den Schulterschluss zwischen der politischen Linken, autoritären Regimen und dem Islamismus im Westen zu problematisieren, ist umso dringlicher, als die Generationen, denen einstige Studentenbewegte einen antiwestlichen Habitus beibrachten, heute Regierungsverantwortung tragen, Lehrstühle innehaben, im Kultursektor und in vielen Medien tonangebend sind. Antiwestler wie Wladimir Putin, Xi Jinping, Recep Tayyip Erdogan, die Taliban, das iranische Mullah-Regime sowie in Europa organisierte Islamisten lassen sich nicht durch Einbindung beschwichtigen, einhegen, kontrollieren, gar umdrehen oder zu Fall bringen. Wie brandgefährlich solche Irrtümer sind, haben der Rückzug aus Afghanistan und die deutsche Russland-Politik der letzten zwanzig Jahre gezeigt.
Antiwestlicher Furor
Schröter ist nicht die erste Wissenschaftlerin, die den Hass auf den Westen im Westen selber lokalisiert. Ian Burumas und Avishai Margalits Buch „Okzidentalismus, Der Westen in den Augen seiner Feinde“ von 2004 hatte die in Deutschland, Russland und der islamischen Welt kultivierte romantisch-gegenaufklärerische Aversion gegen eine politisch-juristische Ordnung skizziert, die zwingend von den kollektiven Herkünften und Religionszugehörigkeiten ihrer Mitglieder absehen muss, um funktionieren zu können. Doch die Frankfurter Ethnologin schreibt keine Ideengeschichte. Ihr Ausgangspunkt ist immer die Erfahrungswelt. Die antiwestlichen Deutungsmuster analysiert Schröter im Abgleich mit offenkundigen Fakten. Edward Saids Buch „Orientalismus“ (1978) kritisiert sie als Gründungsdokument der postkolonialen Studien mit ihrer irreführenden, weil hochselektiven Faktenauswahl, ihrem Ausblenden ganzer historischer Perioden – man denke an die islamischen und osmanischen Eroberungen oder den arabisch-islamischen Sklavenhandel -, ihrem Empirieverzicht zugunsten moralisierender Anklagen, ihrem Kollektivdenken und ihrer Inkonsistenz, aus einer essentialistischen Perspektive heraus den angeblich genuin westlichen Essenzialismus anzuprangern.
Religion, Herkunft und Hautfarbe als Politikum?
„Kampfbegriffe“ wie „Islamophobie“ und „antimuslimischer Rassismus“ setzen die alte Ost-West-Konfrontation unausgesprochen fort und zelebrieren den alten Furor. Schröter zufolge mobilisieren sie gegen die freiheitlich-demokratische Werteordnung, weil sie ihr die Geltung islamischen Rechts überordnen. Das richtet sich gegen die Trennung von Staat und Religion, gegen die individuell einklagbaren Menschen-, Frauen- und Bürgerrechte und gegen die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Im Westen dienen beide Kampfformeln einer Täter-Opfer-Umkehr, die Muslime Schröter zufolge vor unterstellter Entrechtung zu schützen vorgibt und den Westen für den Niedergang des Islam verantwortlich macht. Eingeführt von Ajatollah Khomeini nach der islamischen Revolution von 1979 im Iran, wird der „Islamophobie“-Vorwurf von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) seit 2006, dem Jahr des Erscheinens der dänischen Mohammed-Karikaturen, als Zensurinstrument in Stellung gebracht. Erfüllte die Scharia-basierte „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1990 die Aufgabe, die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 zu konterkarieren, so verfolgt die „Islamophobie“-Anklage das Ziel, die westliche Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit einzuschränken. Die britische Nichtregierungsorganisation Runnymede Trust übernahm und verbreitete den „Islamophobie“-Begriff, um abwertende Zuschreibungen an Muslime und den Islam zu benennen. In Deutschland fungiert „antimuslimischer Rassismus“ als Ersatz dafür.
Bei beiden Kampfformeln handelt es sich um politisch-ideologische Propaganda, die fortgesetzt wissenschaftliche und journalistische Standards unterläuft. In Deutschland empfehle ein steuergeldfinanziertes „Journalisten-Handbuch zum Thema Islam“ von Farid Hafez und Daniel Bax eine weniger problemorientierte Berichterstattung, die Trennung von Dschihadismus und Islam sowie das Verschweigen der Herkunft und Religionszugehörigkeit von Straftätern, schreibt Schröter. (Bei mangelhafter Selbstzensur, muss man ergänzen, droht der Negativpreis „Goldene Kartoffel“ des ebenfalls steuergeldfinanzierten Vereins „Neue deutsche Medienmacher“, der damit z. B. die Berichterstattung über Clan-Kriminalität und Identitätspolitik diskreditierte.) Islamische Fundamentalistinnen wie Lamya Kaddor oder Kübra Gümüsay beschimpfen Islamkritikerinnen wie Necla Kelek schon mal als „Haustürke“ (fallweise auch „Hausaraber“), um sie eines vermeintlichen Verrats am Herkunftskollektiv zu bezichtigen. Schröter schaut auch nach Frankreich, auf den islamistischen Mord am Lehrer Samuel Paty im Oktober 2020, der die Mohammed-Karikaturen im Unterricht als Beispiel für Meinungsfreiheit gezeigt hatte, und auf die Denunziation des Hochschullehrers Klaus Kinzler von der Universität Grenoble durch eine linksextreme Studentengewerkschaft, die ihn als „islamophob“ und „faschistisch“ brandmarkte, weil er den „Islamophobie“-Vorwurf eine islamistische Propagandawaffe genannt hatte. Saids „Orientalismus“ hatte das Opfernarrativ von den Muslimen als dem Anderen eines angeblich strukturell rassistischen Westens etabliert.
Deshalb muss, wer verstehen will, weshalb Teile etablierter Eliten in Politik, Medien, Kunst und Kultur solchen Propagandaerzählungen aufsitzen, die Universitäten in den Blick nehmen, wie Schröter zu Recht bemerkt. Denn auch die aus den Vereinigten Staaten importierte Critical Race Theory dichtet dem gesamten Westen einen systemischen bzw. strukturellen Rassismus an. Dieser bestünde angeblich in der Diskriminierung durch Gesetze, in Wahlen, aufgrund mangelnder Repräsentanz, im Bildungswesen, auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Doch ist die Übertragbarkeit der US-amerikanischen Theorie auf das sozialstaatlich verfasste Europa mit seiner historisch anderen Entwicklung nicht gegeben. Ferner lässt sich die Kritik am Hautfarbenrassismus nicht auf andere Einwanderergruppen und erst recht nicht auf die Religionszugehörigkeit anwenden. Auch treffen die Ergebnisse statistisch erhobener Daten, wie Schröter zeigt, noch keine Aussagen über faktisch erlittene Benachteiligungen aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit.
Rassismus als vermeintlich angeborene Eigenschaft „weißer“ Menschen zu postulieren, ignoriert den internen Rassismus afrikanischer Gesellschaften, ihre Verstrickung in den Sklavenhandel, die historische Tatsache „weißer“ Sklaven und zementiert den alten Hautfarbenrassismus, weil es ihn lediglich umdreht. All das lässt den Kampf gegen Diskriminierungen gleich welcher Art in inquisitorische Tribunale und Cancel Culture ausarten, wie die Fälle des Kolonialismusforschers Helmut Bley im Frühjahr 2021 und der britischen Philosophin Kathleen Stock im Herbst 2021 belegen. Das gefährde, so Schröter, zugleich die Wissenschaftsfreiheit und die Wissenschaft als Suche nach Erkenntnis. Das betrifft nicht zuletzt die Migrationsforschung, die nicht die Aufgabe habe, Willkommenskultur und Weltoffenheit zu predigen, sondern gleichermaßen Schatten- wie Sonnenseiten von Migration zu analysieren. Schröter weist auf die absurd verzerrte Wahrnehmung von Positionen als angeblich „rechts“ hin, die aus demokratiepolitischer Perspektive den Islamismus, Identitätspolitik und ungesteuerte Zuwanderung problematisieren. In einem Abschnitt widmet sich Schröter dem seit der Zweiten Intifada ab 2000 im Westen wieder wachsenden Antisemitismus und mahnt eine „Zeitenwende“ im Handeln an, denn wäre der Bundestagsbeschluss zur antisemitischen Boykott-Kampagne BDS vom Mai 2019 berücksichtigt worden, hätte es kein documenta-Desaster 2022 gegeben.
Der Westen beging im Laufe seines Bestehens viele Fehler. Schröter unterschlägt sie nicht. Doch hat er strukturell mit seinen Freiheitsrechten die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstkorrektur verankert. Liberale Demokratien sehen sich heute Gefährdungen von rechten, linken und religiösen Extremisten ausgesetzt, die unsere Gesellschaften spalten. Engagiert, aber unaufgeregt moniert Susanne Schröter, dass, wer weiter im Westen leben will, zuerst die Freiheitsrechte des Individuums gegen die Zu- und Übergriffe selbsternannter Vertreter von Kollektiven und selbsternannter Zensoren verteidigen muss. Verantwortlichen in Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur sei das Buch ans Herz gelegt.