„Judenfeindschaft kann man nicht ohne die Macht der Sprachgewalt erklären und bekämpfen.“ Diese fundamentale Einsicht hat die Kognitionswissenschaftlerin und Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel in ihrem neuen Buch “ Toxische Sprache und geistige Gewalt, Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen“ gut belegt. In den ersten der insgesamt 17 Kapitel erklärt Schwarz-Friesel mit Bezug auf die Neurowissenschaft, wie Sprache funktioniert und wie wir über sie unsere Wirklichkeit formen.
Jede und jeder von uns erfährt und gebraucht Sprache als Mensch mit Überzeugungen, Glaubensinhalten, Weltanschauungen etc. und greift dabei auf einen jahrtausendealten Fundus aus dem kulturellen Gedächtnis zurück, in dem Judenfeindschaft ein integraler Bestandteil ist, weshalb an ihr, ob wir das wollen oder nicht, niemand vorbeikommt. Wir stoßen zwangsläufig auf sie, sobald wir zu kommunizieren beginnen.
Mit der Verschriftlichung des christlichen Glaubens in den Evangelien und den Paulus-Briefen wurden Schwarz-Friesel zufolge die sprachlichen Fundamente der Judenfeindschaft als abstraktes Weltdeutungsmuster gelegt, die bis heute das Leben von Juden gefährden. Das Christentum zielte nicht auf Rivalität, sondern durch seine Verdammungs-Rhetorik und seine Ersetzungslogik – Christen als das „wahre Israel“ – immer schon auf die Zerstörung des Judentums. Im Johannesevangelium werden Juden als Teufel und metaphorisch-allegorisch als Blinde bezeichnet, das heißt, als intellektuell defizitär und moralisch verdorben. Paulus bezichtigte sie der Menschenfeindlichkeit. Die Überzeugung, Juden seien das Böse schlechthin und die Welt wäre eine bessere ohne sie, sagen und schreiben Judenfeinde seit der Antike und sie tun das bis heute in E-Mails und Briefen an die israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden. Dabei schöpfen sie, bewusst oder unbewusst, aus dem riesigen Reservoir, das Kirchenväter, mittelalterliche Kirchenvertreter, Protestanten wie Martin Luther und die aufgeklärten Geister der Moderne in einer Art Endlosschleife angehäuft und in unserem kulturellen Gedächtnis immer wieder erneuert haben. Unser Gehirn ruft die Verknüpfung dieser Sprachbilder, die in und für uns denken, automatisch ab. Unsere einzige Chance besteht darin, sich ihrer bewusst zu werden und sensibel mit unserem Sprachverhalten umzugehen.
Weil es nach der Shoah nicht mehr opportun ist, sich öffentlich zur Judenfeindschaft zu bekennen, leugnen Judenfeinde, es zu sein. Das tat seinerzeit aber auch schon der Publizist Wilhelm Marr, der die Wortneuschöpfung „Antisemitismus“ als Euphemismus prägte, um blanken Judenhass zu bemänteln und dabei den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu erzeugen. In seinem Pamphlet „Vom Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ (1879) simulierte er eine Orientierung an Fakten und Wahrheit, stilisierte sich als unterdrückte Stimme, die gegen eine übermächtige Presse ankämpfen müsse, um eine angeblich notwendige Kritik vorzutragen. All diese Scheinargumente, so Schwarz-Friesel, finden sich heute bei den Protagonisten des israelbezogenen Antisemitismus wieder, die ebenfalls vorgeben, nur einen „ehrbaren Kampf für Meinungs- und Pressefreiheit“ auszufechten, wenn sie ihre vermeintlich legitime Kritik an Israel platzieren. Tatsächlich übertragen sie nur die sattsam bekannten antisemitischen Stereotype auf den jüdischen Staat. Israel figuriert dabei als kollektiver Jude, der, von seinen Kritikern verteufelt wie die Juden im Evangelium des Johannes, nun moralisch verbessert und geläutert werden müsse. Schwarz-Friesel gelingt es immer wieder, die Strategien der Dämonisierung, der Delegitimierung und der doppelten Standards durch die Geschichte hindurch en detail aufzuzeigen. Das verleiht ihrer Analyse eine enorme Tiefenschärfe.
Anders als der Euphemismus macht der Dysphemismus das, was er evoziert, nicht schön, sondern hässlich. In Kombination mit hyperbolischen Übertreibungen werden von Israelfeinden „Menschheitsverbrechen“ fabuliert, die nie stattgefunden haben: Aus Siedlungspolitik, die man sachlich kritisieren kann, wird „ethnische Säuberung“, aus Flucht wird ein „Genozid“ bzw. ein „zweiter Holocaust“ – als Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, im August 2022 Israel 50 Holocausts vorwarf, anstatt auf die Frage eines Journalisten nach dem Terroranschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft in München 1972 zu antworten, wurde die ganze deutsche Öffentlichkeit zum Zeugen dieser Darstellungsstrategie -, aus der israelischen Regierung ein „zionistisches Unrechtsregime“, aus der liberalen Demokratie Israel ein „Apartheidstaat“, aus ihrer Gründung eine „Kolonisierung“ und ein „Landraub“, aus dem Zionismus schließlich „Rassismus“, beschreibt Schwarz-Friesel die für den israelbezogenen Antisemitismus typischen sprachlichen Verzerrungen.
Die antisemitische Israel-Boykottkampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) wird von Terrororganisationen beeinflusst, schreibt Schwarz-Friesel unter Bezugnahme auf die Ethnologin Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Es verwundert daher wenig, dass BDS nach den von Schwarz-Friesel herausgearbeiteten Strategien der beschönigenden Verharmlosung und der drastischen Herabsetzung verfährt: Einerseits stellt sie die scheinbar harmlose Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ für alle im Zuge des arabischen Angriffskriegs auf Israel 1948/49 geflohenen, nur zu einem sehr kleinen Teil vertriebenen arabischen Palästinenser auf, die aber, würde sie realisiert, einer Zerstörung Israels gleichkäme, mithin mitnichten so unschuldig ist, wie sie sich gibt. Andererseits üben BDS-Vertreter massiven Druck auf Supermarktkunden aus, keine israelischen Produkte zu kaufen, nötigen Veranstalter, israelische Wissenschaftler und Künstler aus- bzw. gar nicht erst einzuladen, und umgekehrt Wissenschaftler und Künstler aus aller Welt, Israel zu meiden, um den jüdischen Staat international zu isolieren. Entgegen ihrer Selbstdarstellung agieren BDS-Vertreter alles andere als gewaltlos, vielmehr mit lautstarker Hassrhetorik voller Hirngespinste und greifbar destruktiv, wie Schwarz-Friesel überzeugend darlegt.
Worin besteht nun das Neue und Vielversprechende in Schwarz-Friesels jüngstem Buch? Erstens im sprachanalytischen Ansatz, der, anders als andere Methoden, zu zeigen vermag, wie und warum sich Judenfeindschaft buchstäblich über zwei Jahrtausende hinweg und trotz wechselnder Kontexte nahezu unverändert reproduziert hat. Wer wie Schwarz-Friesel Judenhass als christlich fundiertes, später lediglich verweltlichtes, aber von Anfang bis Ende abstraktes Weltdeutungsmuster begreift, vermag auch zu belegen, dass sich diese Sprachgebrauchsmuster unbehelligt von erfahrbarer Wirklichkeit fortpflanzen. Zweitens liefert die Analyse kognitiv-emotionaler Sprachstrukturen von Judenhass einen Anknüpfungspunkt zu seiner Bekämpfung. Denn wenn der juden- und israelfeindliche Fantasiehaushalt aus Verschwörung, Mord, Macht, Geld und Menschenverachtung immer wieder nur umformuliert und angepasst wird, im Kern aber unverändert bleibt, weshalb mit jeder neuen Form der Judenfeindschaft die alten, überwunden geglaubten Bilder aktualisiert werden, kann der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, wie sie auszuhebeln sind, nicht in den sich wandelnden Kontexten liegen. Monika Schwarz-Friesel schließt nicht nur eine lange klaffende Forschungslücke zur Frage, wie Judenfeindschaft tradiert und reproduziert wird, sie ebnet auch neuen Überlegungen zur Gegensteuerung den Weg. Mehr kann man von einer exzellenten wissenschaftlichen Studie nicht verlangen.