Eine kluge Juryentscheidung, fuhr es mir durch den Kopf, als ich Ausschnitte aus Serhij Zhadans Friedenspreisrede aus der Paulskirche im Radio hörte. Dass sich durch Zhadans Kritik der eine oder andere „Intellelle“ im Land auf den Schlips getreten fühlen würde, war abzusehen. In der „Welt“ ist dazu alles gesagt worden, was dazu zu sagen ist. https://www.welt.de/debatte/plus241803929/Intellektuelle-Harald-Welzer-und-der-Gestus-moralisierender-Ueberlegenheit.html; https://schmid.welt.de/2022/10/28/vom-ueberleben-im-krieg-der-ukrainische-dichter-serhij-zhadan-sein-aktivismus-und-die-infamie-seiner-deutschen-kritiker/; Wer bloß die Nachrichten verfolgt – in ihrer Berichterstattung zur russischen Invasion in die Ukraine und den Kriegsverbrechen dort leisten die früheren und aktuellen Korrespondenten des Deutschlandfunks exzellente Arbeit -, verfügt bereits über den Kontext, den benötigt, wer die Texte Zhadans analysieren will. Natürlich gehören zu diesem Kontext auch die Offenen Briefe, Interviews, Wortspenden in Talk-Shows, die Leute wie die Gebrüder Welzer, Precht & Co seit Kriegsausbruch im Februar zur Genüge vertickt haben.
Woran es diesen „moralisch durch und durch verkommenen Subjekten“ (ein türkischer Freund) vor allem fehlt, ist historische und politische Bildung. Das gilt auch für die Partei, die derzeit den Kanzler stellt. Mit vierjähriger Unterbrechung trägt sie seit 1998 entweder als Koch oder als Kellner Regierungsverantwortung. Und sie hat seither oft die falschen Leute in Ämter befördert und legt offenkundig mehr Wert auf Qualifikationen wie das kunst- und fachgerechte Verbreiten von heißer Luft und unerträglicher Phrasen als auf politisches Einschätzungsvermögen und belastbares Faktenwissen. Putins Krieg in der Ukraine wäre durch umsichtiges politisches Handeln zu verhindern gewesen. Er ist das Ergebnis falscher Außen- und Wirtschaftspolitik seit nunmehr fast zwanzig Jahren. Daran waren auch die CDU und vor allem Angela Merkel beteiligt, gar keine Frage. Nur sind die dafür maßgeblich verantwortlichen CDU-Politiker alle nicht mehr im Amt. Die SPD hätte es heute in der Hand, ihre Personalpolitik anders zu gestalten. Denn wir sehen tagtäglich, dass diejenigen, die in erster Linie ihre Versorgung im Auge hatten und ihren persönlichen Narzissmus gepflegt haben, anstatt verantwortungsethisch und sachorientiert zu handeln, nicht willens sind, die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns – eines Versagens – zu übernehmen und das Feld zu räumen. Das wäre das Mindeste.
Mit einigen Nachwuchs“talenten“ wird das zukünftig nicht anders ablaufen. So viel ist heute schon sicher. Was soll Kevin Kühnert, der über keinerlei berufliche Qualifikation verfügt, denn tun, wenn seine steile Parteikarriere endet? Eben! Politische Begabung zeigt sich nicht darin, dass man in vielen geordneten Haupt- und Nebensätzen – die auf mich immer wie zurechtgelegt wirken – möglichst viel verbales Gewölk um sich verbreitet, sondern darin, dass man im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen in der Lage ist und auch den Mut hat dabei zu scheitern. Das bedeutet aber, dass man vor allem über ein paar Grundqualifikationen verfügen muss: Realitätssinn, schnelle Auffassungsgabe, Analysevermögen, intuitives Wissen, was man wann am besten – und manchmal am schnellsten – tut, auch wenn man nicht immer sofort sicher sein kann, dass es klappt. Die SPD hat über Politiker mit diesem Profil in der Vergangenheit schon verfügt und ich glaube auch nicht, dass es nicht auch einige Politiker mit solchen Fähigkeiten in dieser Partei gibt. Nur kommen sie offenkundig schwer hoch und erst recht nicht in die erste Reihe. Die Schröders, Steinmeiers, Gabriels, Mützenichs, Maasens, Stegners, Faesers, Eskens, Kühnerts und wie sie alle heißen, haben dieses Format jedenfalls nicht.
Man muss nach einem Dreivierteljahr Krieg in der Ukraine – der genaugenommen schon seit der russischen Annexion der Krim andauert – nichts mehr dramatisieren. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass dieser Krieg kein Naturereignis ist, sondern die Folge menschlichen Handelns. Das galt natürlich auch für die beiden verheerenden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Es nützt uns nur nichts, wenn Schlaumeier wie Sigmar Gabriel „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark lesen – ein ausgezeichnetes Sachbuch – und daraus dann die falschen Schlüsse ziehen. Wichtiger wäre es gewesen, Wladimir Putin und seine Entourage richtig einzuschätzen, keine Hofknixe vor dem iranischen Mullah-Regime zu machen und vor allem in Katar kein Regime auf dem guten Weg zur Demokratie zu sehen, das eben nur noch ein bißchen braucht, um da anzukommen, wo wir schon sind. Kann einen fassungslos machen. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Personal von solcher Urteilskraft wie Steinmeier oder Gabriel die Geschicke unseres Landes bestimmt haben und zumindest noch repräsentieren und für all das auch noch bezahlt und bis an ihr Lebensende versorgt werden, könnte man schwermütig werden. Es hilft einem auch nichts, wenn man weiß, dass mit den Putinisten von der LINKEN und der AfD alles nur noch sehr viel schlimmer wäre! Uns geht es vergleichsweise noch blendend.
Im Augenblick bezahlen die Ukrainerinnen und Ukrainer mit ihrem Leben, was unsere Politiker von Merkel bis Steinmeier verbockt haben! Ohne Daladiers und Chamberlains Appeasementpolitik gegenüber einer Gestalt wie Adolf Hitler beim Münchner Abkommen 1938 hätte es vielleicht nie einen Zweiten Weltkrieg gegeben, keine Shoah, keine 65 Millionen Toten. Gewiss, Hitler suchte den Krieg und hätte immer Anlässe gefunden, ihn vom Zaun zu brechen, aber ohne das Münchner Abkommen wäre es zumindest schwieriger gewesen, Polen zu überfallen, zumal der Deal mit Stalin durch Hitlers Erfolg in München Schwungkraft erhielt.
Als die Deutschen 1933 ihre Demokratie weggelegt hatten wie ein ungeliebtes, schwer erziehbares Kind und es auch danach nicht vermocht hatten, sich aus eigener Kraft von der selbst gewählten Nazi-Herrschaft zu befreien, war das Ausland gefragt. Nachdem die Ukrainer (auch die Belarussen) die mit Abstand meisten Todesopfer unter der Zivilbevölkerung zu verzeichnen hatten – ja, es gab ukrainische Helfer bei der Shoah, aber darüber zu reden ist jetzt nicht die Zeit -, verdanken sie es nun ein zweites Mal deutschen Politikern, dass ihr Land verheert wird und seine Einwohner sterben müssen. Ohne den Murks von Minsk, den Merkel und Steinmeier zu verantworten haben wie Daladier und Chamberlain seinerzeit den Ausverkauf der CSR, hätte es keinen Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 geben können.
All das hat Serhij Zhadan in seiner Friedenspreisrede nicht gesagt. Es sind Gedanken, die mich seit dem 24. Februar bis auf diesen Tag begleiten. Bleiben Sie gesund, lieber Serhij Zhadan!