1952 kam Charlie Chaplins Melodram „Limelight“ ins Kino. Der Film ist in vielerlei Hinsicht ein Meisterwerk. Es brachte selbst Machos wie den Regisseur Bernardo Bertolucci (1900, Der letzte Tango) zum Weinen. Kein Zuschauer muss sich für seine Tränen schämen. Chaplin hätte sie geschätzt.
Wenn der am Filmende nach einem Bühnenunfall soeben in den Kulissen verstorbene Clown Calvero mit einem weißen Leinentuch bedeckt wird, hat die Kinoleinwand das Varieté in der Rangfolge der Unterhaltungsmedien abgelöst. Wie dieses zuvor den Zirkus, dessen gemaltes Bild am Filmanfang hinter dem erfolgsverwöhnten, aber beim Publikum nicht mehr gefragten Bühnenclown Calvero zu sehen ist. Niemand lacht mehr über seine Späße. Das Publikum gähnt. Calvero ist out. Und ersäuft seinen Kummer darüber im Schnaps.
Als er betrunken heimkehrt, rettet er die junge Tänzerin Thereza, die glaubt, nie mehr tanzen zu können, vorm Selbstmord. Mit seiner Lebensklugheit, Fürsorge und Empathie baut er sie peu a peu wieder auf. Als die Ballerina ihre großen Bühnenerfolge feiert, sorgt sie für Calveros Comeback. Doch sein erster Auftritt wird zu seinem letzten. Sein Abgang in den Orchestergraben ist tödlich. Noch einmal hatte er rasenden Applaus für seinen Auftritt erlebt. Thereza ist eine junge Bühnenkünstlerin am Anfang ihrer Karriere, Calvero dagegen ein alter Bühnenhase am Ende seiner Berufslaufbahn.
Junge Frau und alter Mann, das ist ein Klassiker der Commedia dell’arte, dem italienischen Stegreiftheater mit seinen Pantalones, Harlekins, Bajazzos, Colombinas usw. In der Figurenkonstellation Calvero/Thereza verbinden sich Elemente all dieser Bühnentypen. Calvero tritt nicht zuletzt ab, um der Verbindung Therezas mit dem jungen Komponisten Neville Platz zu machen. Auch das ist bühnengerecht.
Clown und Ballerina oder auch Kunstreiterin sind eine stehende Verbindung, die Chaplin schon in einem anderen seiner Meisterwerke auf Zelluloid gebannt hatte. Im Stummfilm „The Circus“ von 1928 konkurriert der Trampclown Charlie vergeblich mit dem jungen Seilkünstler Rex um die Gunst der jungen Kunstreiterin. Chaplin hat solche Konstellationen nicht erfunden, aber seinen Geschichten anverwandelt. Wie die Tradition der darstellenden Künste das immer getan hat. Man denke nur an Igor Strawinskys Ballett „Petruschka“ von 1911 oder den Film „Kinder des Olymp“ von 1945. Chaplin schöpfte aus dem riesigen Arsenal der englischen und französischen Pantomimentradition, die er zugleich zum Sujet machte, modifizierte und in ein neues Medium transponierte. So setzte er eine Tradition fort, indem er mit ihr brach.
Chaplin erzählt in seinen Filmen beiläufig und unaufdringlich immer auch Kunst- und Mediengeschichte. Und inspiriert – ob bewusst oder unbewusst, ist völlig egal – damit andere Künstler. Sei es Federico Fellinis Fernsehdokumentation „Die Clowns“ von 1970, seien es die Kinks mit ihrem Song „Death of a Clown“ von 1967. Das ist das Leben der Kunst.