Wie vermutlich viele Menschen habe ich die Entscheidung des Ravensburger Verlags, die Winnetou-Produkte zurückzuziehen, weil sich ein paar Leute aus der woken Twitter-Gemeinde darüber aufregten, mit Kopfschütteln quittiert. Wäre ich ein alter Verlagspatriarch oder eine alte Verlagspatriarchin, hätte ich als erstes die Leute gefeuert, die diesen Unsinn auf Twitter ernstnahmen. Denn sie haben schon nicht verstanden, was man im Grundstudium Literaturwissenschaft gelernt haben sollte: Literatur repräsentiert niemals irgendetwas außerhalb ihrer selbst! Das gilt für den Höhenkamm genauso wie für die Populärkultur und für die Kunst überhaupt. (Klar gibt es Darstellungen, die zu Recht heute nicht mehr verbreitet werden dürfen, weil sie manipulative Propaganda sind, deshalb eben erstens keine Kunst und zweitens keine Repräsentation derjenigen, die als Feinde auserkoren wurden.) Ferner haben die woken Leute offenkundig nicht gelernt, Imaginäres von Faktischem zu unterscheiden und gerade dieses Differenzierungsvermögen als kulturbildend auszumachen.
Was mich aber am meisten erschreckt hat: Da ist ein Verlag in einer freien Verlagslandschaft, der sich von ein paar woken Eiferern, die er noch dazu mit seiner Kundschaft zu verwechseln scheint, diktieren lässt, was er auf den Markt bringt und was nicht. Verlagseigene Kompetenz, die die ungerechtfertigten Vorwürfe hätte fundiert zurückweisen können, gab es offenkundig nicht. Das sollte den Verlagsverantwortlichen zu denken geben! In der DDR waren Karl Mays Bücher jahrzehntelang unerwünschte Literatur und wurden nicht gedruckt. Wir leben aber heute in einer liberalen Demokratie und nicht in einer Diktatur, in der eine Handvoll Leute darüber entscheidet, was auf den Büchermarkt kommt und was nicht. Bleibt zu hoffen, dass sich ein anderer Verlag der gecancelten Produkte annimmt und sie baldmöglichst herausbringt.
Karl Mays Bücher zählen zur Abenteuerliteratur und als solche zur Populärkultur. Weder repräsentieren sie die indigene Bevölkerung Nordamerikas noch hat ihr Autor je den Anspruch auf literarischen Realismus erhoben. Es ist Fantasy-Literatur von der ersten bis zur letzten Zeile und wollte auch nie etwas anderes sein. Die Herangehensweise woker Leute an Kunst und Literatur verrät außer mangelnder Kenntnis des Gegenstands, über den sie sich im Netz auslassen, auch noch völlige Unkenntnis darüber, was Kunst und Literatur im Unterschied zu Sachbüchern darstellt: Es geht nicht um ein Abkonterfeien real existierender Menschen, sondern um Traumwelten, manchmal um Angstfantasien, manchmal um Wunschfantasien, immer aber um Vorstellungen, die uns viel über den Gedanken- und Gefühlshaushalt bestimmter Milieus zu bestimmten Zeiten erzählen können, aber selten viel darüber hinaus.
Davon auszugehen, dass Karl May in seinen Abenteuerromanen die indigene Bevölkerung Nordamerikas hätte repräsentieren wollen, sollen oder müssen, und seine Bücher daran messen zu wollen, zu sollen oder zu müssen, ob ihm das gelang, ist grotesk. Kein Mensch käme auf die Idee, diese unterstellte Repräsentationsfunktion als Maßstab selbst an zeitgenössische realistische Romane anzulegen.
Ja, hätte May die von ihm so genannten Indianer als boshaft, machtgierig, übelwollend, verschwörerisch und destruktiv dargestellt, müsste man erstens von seiner Darstellung auf ihn selber schließen und zweitens darüber nachdenken, seine Bücher vielleicht nicht gerade Kindern und Jugendlichen ans Herz zu legen. All das aber ist bei Karl May überhaupt nicht der Fall!
Was Kinder und Jugendliche lernen müssen, ist, zwischen Fantasie- und Faktenwelt zu unterscheiden. Und das können sie, werden sie dabei von kundigen Erwachsenen begleitet und unterstützt, gerade mit den Büchern von Karl May.