In der Bundestagsdebatte zum Antisemitismus-Eklat auf der documenta 15 am vergangenen Donnerstag (7.7.) traten erneut zwei schwerwiegende Irrtümer zutage: Die Annahme, dass erst der Postkolonialismus die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus angestoßen hätte, und dass zweitens Rassismus und Antisemitismus eng miteinander verzahnt wären. Beides ist falsch.
Wer den deutschen Kolonialismus aufarbeiten will, der muss die postkolonialen Studien meiden und sich auf die Ergebnisse konzentrieren, die seit etwa vierzig Jahren – ab etwa Mitte der 1970er Jahre – in der deutschen und internationalen Kolonialismusforschung erzielt, stets ergänzt und erweitert worden sind. Diese Forschung arbeitete im Gegensatz zu den postkolonialen Studien mit aus historischen Quellen erschlossenen Fakten, ordnet sie ein, falsifiziert, überprüft, korrigiert und revidiert, wo nötig. Empirie gehört hier nicht nur zum guten Ton, sie ist zentraler Maßstab allen wissenschaftlichen Arbeitens.
Ganz anders die postkolonialen Studien, die keine wissenschaftliche Methode, sondern ein teilweise unerträglich sakralisierter, ideologischer „Überbau“ sind. Die postkolonialen Studien funktionieren wie überkommene schlechte Theologie: es wird rezitiert, behauptet und geglaubt. Der Auftritt Nikita Dhawans auf der Podiumsdiskussion zur documenta 15 am 29. Juni war dafür ein guter Beleg. Man kann sich das auf YouTube anhören und ansehen https://documenta-fifteen.de/news/podium-zum-thema-antisemitismus-in-der-kunst/
(leider wird ins Deutsche übersetzt; Dhawan spricht ein sehr gut verständliches Englisch, im Übrigen auch exzellent Deutsch).
Erst wird Immanuel Kants kurze Schrift „Was ist Aufklärung?“ ein bißchen verbogen, denn ihm ging es nie um Kritik an Zensur, sondern um selbständiges Denken. Dann wird Frantz Fanon zitiert und indirekt sein Philosophielehrer Aimé Césaire mit der Aussage, dass es um Schwarze ginge, wenn unter Weißen abfällig von Juden die Rede sei. Das impliziert, dass überhaupt nur Weiße schlecht über Juden reden könnten, was Unsinn ist, weil christianisierte und islamisierte Schwarze das mindestens ebenso gut drauf haben wie Weiße. Gemeint sei mit der Aussage einer Verklammerung von Schwarzen und Juden gegenüber Weißen eine Aufforderung zur Solidarität. Das wäre schön. Es hat solche Solidarisierungen während und seit der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten immer wieder gegeben. Sternstunden. Leider gehen sie meist nur in eine Richtung: Juden solidarisieren sich mit Schwarzen, wenn es darum geht, Bürgerrechte für Schwarze durchzusetzen, den Ku-Klux-Klan anzuprangern, tödliche, manchmal mörderische Polizeigewalt gegen Schwarze anzuklagen, den Alltagsrassismus gegen Schwarze zu bekämpfen etc.pp Es gibt mit Sicherheit auch Beispiele für Solidarisierungen in die andere Richtung. Allein man muss sie suchen. Ich verstehe Fanons Aussage anders. Die schwarzen Wissenschaftler und Philosophen W.E. Dubois und Aimé Césaire trafen ihre Aussagen, dass der NS-Judenmord nichts gewesen sei, das zuvor nicht schon von Schwarzen, Indern und anderen Kolonisierten erlitten worden wäre, Ende der 1940er Jahre, zu einer Zeit, als zwar die jüdische Geschichtsschreibung das Menschheitsverbrechen dokumentiert hatte, es aber sonst noch keinerlei systematische Erfassung, Aufarbeitung und Erforschung der Shoa gegeben hat. Man kann ihnen also schwerlich einen Vorwurf machen. Fanon auch nicht.
Doch als die postkolonialen Studien in den 1980er Jahren entstanden, war das anders. Ihren ‚Theoretikern‘ von Edward Said über Gayatri Chakraworty Spivak bis hin zu Achille Mbembe und erst recht ihren heutigen Adepten wie Nikita Dhawan kann man die gezielte Ignoranz der Antisemitismus- und Holocaustforschung ankreiden https://taz.de/Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526/. Hinzu kommt der dürftige Input, der mit dem, was man einmal unter Theorie verstand – man denke an schwer verdauliche Kost von Kant über Adorno bis hin zu Luhmann – nicht viel zu tun hat, sondern eher antiimperialistische Ideologie oder gar antiwestliche Propaganda mit riesigen blinden Flecken bezüglich des Osmanischen Reichs, der Sowjetunion und des arabischen Sklavenhandels ist. Dafür steht beispielhaft der Antizionist Edward Said, den Dhawan in ihrem Vortrag auf dem Podium anführte.
Ich bin dafür, dass man an Universitäten auch die postkolonialen Klassiker liest. Homi K. Bhabhas Texte sind für Philologen und Literaturwissenschaftler hochinteressant und ich habe sie gern gelesen. Aber wie alle anderen Texte: KRITISCH und immer im Abgleich mit historischen Fakten, sprich: mit Empirie. An Saids verzerrenden Interpretationen, seinen oft abenteuerlichen Schlussfolgerungen und an der Auslassung aller bedeutenden europäischen Orientalisten, die seine Thesen ins Reich der Fantastik verwiesen und als haltlos erwiesen hätten, lässt sich studieren, wie wissenschaftliches Arbeiten nicht funktioniert. Said spart die deutsche Orientalistik und Deutschland als solches nicht zufällig, sondern gezielt aus. Die NS-Kooperation des Mufti von Jerusalem, Haj Amin el-Husseini und seine Verstrickung in die Shoa hätten so wenig ins Bild gepasst wie die Kooperation des indischen Politikers Subhash Chandra Bose mit Nazi-Deutschland und den übrigen Achsen-Mächten. Ich glaube nicht, dass Nikita Dhawan darüber mit ihren Studenten spricht. Lieber flüchtet sie sich wie auf dem Podium in die Werke von Adorno und Hannah Arendt.
Warum sind Adorno/Horkheimer und Hannah Arendt für Dhawan so attraktiv? Ganz einfach: Mit Adorno/Horkheimer glaubt sie die europäische Aufklärung für gescheitert erklären zu können. Das ist allerdings ein Missverständnis. Denn erstens heißt Adorno/Horkheimers diesbezüglich radikalstes Werk ja nicht umsonst „Dialektik der Aufklärung“ (1944/47). Die beiden Autoren plädieren für eine aufgeklärte Aufklärung, also eine, die sich über sich selbst aufklärt. Mit dem Begriff gegen den Begriff, lautete ihre Methode. Keinesfalls handelt es sich um ein gegenaufklärerisches Buch. Hannah Arendt ist für Dhawan wiederum interessant, weil sie Antisemitismus und Rassismus miteinander verlinkt. Arendt versuchte in den späten 1940er Jahren herauszufinden, was am Rasseantisemitismus anders war als am Judenhass des Mittelalters oder der Neuzeit. Ihre Verknüpfung von Rasseantisemitismus und Kolonialrassismus war jedoch eine wilde Spekulation, die sich nicht halten lässt. Arendt las keine antisemitischen Schriften, betrieb kein kritisches Quellenstudium, das heutigen geschichtswissenschaftlichen Standards standhalten würde. Und kam so zu gravierenden Fehlschlüssen. Zu ihnen zählt die völlig falsche Einschätzung, die Nazis hätten die Juden nicht aus antisemitischen Gründen ermordet, sondern loswerden wollen, weil sie sie als überflüssig ansahen. Sie verstand nicht, dass der Rasseantisemitismus vom Kolonialrassismus völlig verschieden gewesen ist und auch kein allgemeiner Rassismus war. Auf den Rassismus kam es im NS-Judenhass gar nicht so sehr an. In der Vorstellung, Juden seien eine Gegenrasse, die vernichtet werden muss, weil sie angeblich plane, die Deutschen auszurotten, schimmern das manichäische Weltbild von gut/böse, die christliche Ritualmordlegende, der Propheten- und Gottesmordvorwurf durch. In seinen Posener Reden von 1943 sprach Heinrich Himmler ausdrücklich vom „moralischen Recht“ und der „Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen“. Diese noch während der Shoa gesprochenen Worte verdeutlichen die geschlossene, projektive Wahn-Logik des Judenhasses klarer als jede wissenschaftliche Analyse das tun könnte. Und sie widerlegen Hannah Arendts Annahme, Juden seien den Nazis bloß lästig gewesen.
Nikita Dhawan könnte all das wissen, wenn sie wollte, denn es ist heutzutage längst nicht mehr so schwer wie zu Zeiten Hannah Arendts, es in Erfahrung zu bringen. Ich fürchte nur, die Dresdener Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte wird es nicht wissen wollen, weil es die Annahme vom engen Link zwischen Antisemitismus und Rassismus als falsch erweist. Doch das Problem, das wir hierzulande haben, heißt „Initiative GG 5.3, Weltoffenheit“, „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“, „Hijacking Memory“-Konferenz etc.pp Auf dem Podium zur Diskussion über den Antisemitismus-Eklat saß auch Hortensia Völkers, die die „Initiative“ unterschrieben hatte und im Publikum Sabine Schormann. Weitere Namen und Institutionen – allen voran das Zentrum für Antisemitismusforschung (in meinem Freundes- und Bekanntenkreis wird „forschung“ gelegentlich durch „förderung“ ersetzt) findet man unter den genannten Aufrufen sowie BDS-freundlichen Erklärungen, in der Politik von der kommunalen über die Landes- bis zur Bundesebene. Dort und nicht in der documenta liegt das Problem.