Eine Formulierung wie „globaler Süden“ ist zutiefst ideologisch! Gemeint sind all die Länder, die in den 1970er noch Entwicklungs- und Schwellenländer hießen. Sie verfügen über keine funktionierenden politischen Strukturen = Instrumentarien wie z. B. freie, gleiche und geheime Wahlen, die alle vier oder fünf Jahre für mögliche und definitiv unblutige Regierungswechsel sorgen können, und Institutionen wie z. B. Gewaltenteilung, die für Machtbegrenzung sorgt. Mit Ökonomie hat das nichts zu tun, weil die Politik und die Verfassung das Wirtschaftssystem bestimmen. Das ist in liberalen Demokratien die freie Marktwirtschaft, die in vielen europäischen Ländern sozialstaatlich flankiert ist und dies grundgesetzlich verbrieft.
Man versteht das abstrakte Geraune von den „Strukturen“ nicht, die Briten, Franzosen, Niederländer, Spanier, Portugiesen, Belgier und Deutsche in ehemals von diesen Staaten kolonisierten Ländern hinterlassen haben sollen und die heute noch so wirkmächtig seien, dass es diesen Ländern unmöglich wäre, politisch, wirtschaftlich und sozial auf die Beine zu kommen. Meinen die Rauner den Kapitalismus? Es scheint so. Aber vergleichbar gut funktionierende wirtschaftliche Strukturen wie die freie und soziale Marktwirtschaft gibt es bislang nirgends und für wen der Zusammenbruch des Staatssozialismus oder -kapitalismus kein Erweckungserlebnis gewesen ist, dem ist nicht zu helfen. Die schwerwiegenden Probleme, die so genannte Entwicklungs- und Schwellenländer zu lösen haben, hängen größtenteils mit ihrer dysfunktionalen staatlichen, juristischen und gesellschaftlichen Ordnung zusammen, nicht mit ihrem Status als ehemals kolonisierte Länder.
Die Verträge mit Wirtschaftsunternehmen und staatlichen Akteuren aus dem Westen, sprich: aus liberalen Demokratien, schließen Wirtschaftsunternehmen und staatliche Akteure aus diesen so genannten entwicklungs- und Schwellenländern. Das gilt eben auch für den aus Europa exportierten Müll. Für den Müll aus Westberlin erhielt die frühere DDR seinerzeit auch Geld, sach- und fachgerecht entsorgt hat sie ihn nie. Wären die DDR-Bürger, hätten sie davon gewusst, gegen den Westen, den Kapitalismus und Imperialismus Sturm gelaufen? Freiwillig vermutlich nicht, denn das Ganze ändern können, hätten nur die für den Import verantwortlichen DDR-Behörden. Und so wären auch die für den importierten Müll verantwortlichen Akteure in den so genannten Entwicklungs- und Schwellenländern die Adressaten für die Agitprop“künstler“ der documenta 15.
Indien ist fast genauso lange von Großbritannien unabhängig wie es vom britischen Empire kolonisiert gewesen ist, aber die postkolonialen sehen die Probleme, die das asiatische Land hat, noch immer in der Kolonialzeit begründet, während sich die Demokratiebewegung in Hongkong fast nichts sehnlicher wünscht, als wieder unter britische Kontrolle zu kommen, um vor China geschützt zu sein! Dass die Kolonialmächte wie in Indien jeweils immer die heimischen Eliten förderten, geschenkt, denn damit ist es seit nun über siebzig Jahren – seit vier Generationen (!) – vorbei, und das Kastensystem haben nicht die Briten eingeführt. Wenn Importe aus Europa in afrikanischen Staaten den heimischen Handel lahmlegen, sind dafür zuerst die Wirtschaftsministerien der afrikanischen Länder verantwortlich, die diese Importe genehmigen! An sie sind Proteste in erster Linie zu richten. Wenn die Entwicklungshilfegelder, die immer an den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie einen Korruptionsindex geknüpft werden sollten, irgendwo versickern oder zweckentfremdet eingesetzt werden, müssen sie gestoppt werden. Diktaturen und korrupte Eliten im „globalen Süden“ zu fördern, kann sich Europa nicht länger leisten. Das gilt im Übrigen in hohem Maße für den Gaza-Streifen und das Westjordanland unter der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Gelder aus der EU nur noch unter Auflagen erhalten sollten. Zu diesen Auflagen gehört das Einstellen jeglicher antiisraelischen Propaganda und der Erziehung zum Judenhass in Schulbüchern.
Die postkolonialen Studien sind nicht in den ehemaligen Kolonien europäischer Kolonialmächte entstanden, sondern wesentlich an amerikanischen und britischen Universitäten. Der Transfer auf die Lehrpläne kontinentaleuropäischer Universitäten ist bislang nur teilweise geglückt und erfährt gegenwärtig langsam Widerspruch. Mit dieser postkolonialen Herangehensweise lässt sich der Kolonialismus nicht angemessen aufarbeiten. Race, Class, Gender sind Kategorien des 19. Jahrhunderts, mit denen sich schon die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch unzureichend erfassen lässt. „Race“ als soziale Kategorie zu implementieren, mit der dann alle jemals hier Eingewanderten, alle Hartz IV-Empfänger und prekär Beschäftigten eingeschwärzt werden, ist nur noch eine Albernheit. Es gibt hierzulande Rassismus, aber weder einen strukturellen noch einen institutionellen. Es ist sicher so, dass sich Leute bei der Polizei und in Behörden unsensibel, diskriminierend und rassistisch verhalten (obwohl blind, sollte ich vor zwei Jahren mal bei einer Behörde meine Fahrerlaubnis vorweisen), aber dagegen kann man sich wehren. Wir haben, denke ich, diesbezüglich seit zehn Jahren eher ein anderes Problem https://jungle.world/artikel/2020/21/wenn-der-kluengel-nicht-kluengeln-darf.
Das europäische Sozialstaatsprinzip funktioniert nach einem Umlagesystem, das alle Autochthonen und alle irgendwann Eingewanderten am Laufen halten, die sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit leisten, sowie alle, die Steuern zahlen, auch die vielgeschmähten „Reichen“. Würden liberale Demokratien in Europa ihre Grenzen für alle Menschen öffnen, müssten sie dieses Umlagesystem und damit den Sozialstaat abschaffen. Wenn heute westliche Staatsgrenzen moralistisch skandalisierend als „Sortiermaschinen“ bezeichnet werden, wird zugleich der Grund dafür verschwiegen. Vor allem aber entpflichtet und entmündigt diese Formulierung die Regierungen jener Staaten, aus denen die Menschen, die illegal nach Europa einwandern wollen, ausgewandert sind.
In postkolonialen Kreisen ist dann schnell die Rede davon, dass diese illegalen Einwanderer sich ohnehin nur zurückholen würden, was ihnen einst von den Kolonialstaaten geraubt worden sei: der Reichtum, über den die Europäer heute verfügen würden, sei das unrechtmäßig angeeignete Erbe des Kolonialismus, weshalb die illegale Einwanderung moralisch berechtigt sei. Im stumpfsinnigen Gerede von den „Sortiermaschinen“ und in der fehlenden Logik von der anhaltenden (!) europäischen Kolonialschuld, die die postkolonialen Studien propagieren, liegt die Ideologiefalle.
Erstens waren nicht alle europäischen Staaten Kolonialmächte: Tschechien, die Slowakei, Polen, alle baltischen Staaten, Ungarn, Bulgarien, alle Balkanstaaten, auch Griechenland oder die Schweiz beispielsweise gehören dazu. Viele dieser Staaten waren oft selber unter Großmächten, sei es das Osmanische Reich, sei es das Habsburger Reich, sei es das wilhelminische Kaiserreich, sei es das zaristische Russland, sei es die Sowjetunion aufgeteilt, ergo selber ihrer Selbstbestimmung beraubt und kolonisiert. Andere Länder wie die nordischen Staaten von Finnland über Schweden und Dänemark bis Norwegen haben entweder nicht oder in einem weit geringerem Umfang kolonisiert. Darum kann die Aufarbeitung des Kolonialismus, den Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland, Portugal und Spanien einst betrieben, kein gemeineuropäisches Projekt sein, sondern muss Aufgabe der zuletzt genannten Länder bleiben.
Zweitens waren nicht alle Staaten und Regionen, aus denen Menschen nach Europa einwandern wollen, früher durch europäische Kolonialmächte kolonisiert. Dazu zählen die Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs, also: Syrien, Irak, der Libanon. Die Völkerbundmandate Frankreichs und Großbritanniens waren eine zeitlich begrenzte Aufbauhilfe zur Schaffung eigenstaatlicher Strukturen. In Jordanien hat das funktioniert, in Syrien, dem Irak und dem Libanon nicht, was allerdings nicht die Schuld der Briten und Franzosen war und schon gleich gar nicht dem Staat Israel anzulasten ist, der einzigen funktionierenden liberalen Demokratie in der Region. Auch Afghanistan oder der Iran waren nie europäische Kolonien, sind aber fest in der Hand von Islamisten, die im Westen, allen voran in den USA einen großen und in Israel einen kleinen Satan erblicken. Viele südamerikanische Staaten wiederum haben Probleme mit Drogenkartellen, korrupten Politikern und Beamten, die gern eng mit Drogenbossen kooperieren, mit mörderischer Bandenkriminalität, mit Morden an Journalisten und Frauen, mit Guerillakämpfern und in Venezuela wie auch im nördlich gelegenen Cuba mit einem dysfunktionalen System des Staatssozialismus. Aus all dem rührt die nicht enden wollende Verarmung der Bevölkerung, nicht aus der einstigen Kolonisierung durch die Spanier und Portugiesen.
Wenn wir nun wollen, dass die Probleme im „globalen Süden“ so bleiben, wie sie sind, müssen wir forciert postkoloniale Studien an unseren Universitäten etablieren, die uns einreden, dass der andauernde Kapitalismus und Imperialismus einen Neo-Kolonialismus erschaffen haben, der die Afrikaner, die Asiaten und die Südamerikaner, die die Palästinenser immer im Schlepptau haben, weil die als Indigene und Kolonisierte gelten, daran hindert, funktionierende Demokratien und Rechtsstaaten zu errichten, die angeblich ohnehin ihrer Kultur zuwiderlaufen.
Sind das jetzt alle Antisemiten? So gut wie die christlichen Europäer und die islamischen Expansoren, die politischen Ideologen von ganz Links über die Mitte bis ganz Rechts. Antisemitismus kommt, das hat Monika Schwarz-Friesel für die Bundesrepublik hinreichend belegt, immer aus der Mitte der Gesellschaft und radikalisiert sich an ihren Rändern. Und wenn Kulturfunktionäre, Politiker und Wissenschaftler kein Problem mit der Israel-Boykottkampagne BDS haben, belegt das Schwarz-Friesels wissenschaftliche Befunde einmal mehr.