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Bloom und der Blinde – Ausflug nach Dublin

Gerade hatte Leopold Bloom ein Gorgonzola-Sandwich und ein Glas Burgunder in der Bar von Davy Byrne zu sich genommen und war anschließend weiter durch die Straßen von Dublin spaziert, als er an der Dawson Street einem jungen blinden Mann begegnet, der mit seinem Stock den Gehweg taxiert. Bloom möchte ihm helfen und fragt ihn, ob er die Straße überqueren will. Von mir bekäme Bloom dafür ein „Ausgezeichnet“. Weil Bloom den Blinden zuerst fragt und mit ihm spricht, bevor er handgreiflich wird. (Leider nicht so furchtbar selten, dass Menschen einen auf der Straße am Arm packen, zerren, ziehen oder schieben. Ziemlich unangenehm. Reden, reden, reden. Bloom macht das.) Der Blinde ist nicht sehr gesprächig, bejaht immerhin, dass er über die Fahrbahn will, denn er ist, wie er sagt, auf dem Weg in die Frederick Street. Bloom führt ihn hinüber, vorbei an der Pferdekutsche, darauf achtend, dass der Blindenstock nicht die Pferdebeine streift. (Sicher haben Blinde seinerzeit individuell schon Stöcke zur Orientierung benutzt. Allgemein in Gebrauch ist der weiße Blindenlangstock erst seit den 1930er Jahren.) Der Roman „Ulysses“ von James Joyce, in dessen Universum wir uns hier befinden, erschien im Jahr 1922. Joyce zeichnet darin einen ganzen Tag, den 16. Juni 1904, im Leben des jüdischen Anzeigenaquisiteurs Leopold Bloom in Dublin auf. Und mischt Blooms Sicht mit  jener des jungen Lehrers Stephen Dedalus.

Gedankenstromtechnik heißt das literarische Verfahren, das Joyce verwendet. Vereinfacht gesagt, schreibt Joyce auf, was Bloom und Daedalus wahrnehmen und was ihnen dabei durch den Kopf geht, was sie sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, denken, fühlen, sagen, pfeifen, singen etc.pp . Ist Bruchstückwerk vom Allerfeinsten.

Zurück auf die Dawson Street und zur Begegnung Blooms mit dem Blinden. Weiß der Kuckuck, was Joyce mit der „sehenden Hand“ des Blinden meinte, die Bloom ergreift und die sich wie früher die kleine weiche Kinderhand seiner inzwischen herangewachsenen Tochter Milly anfühlt, während er mit ihm die Straße überquert. (Blinde haben sehende Hände, weil sie vieles über den Tastsinn wahrnehmen.) Wahrscheinlich bezieht sich „sehend“ auf die Hand des Blinden, die den Taststock führt. (Empfiehlt sich nicht, Blinde an den Arm zu nehmen, mit dem sie den Langstock bewegen, weil sie das dann nämlich nicht mehr tun können. Man müsste jede Unebenmäßigkeit am Boden ansagen und das ist furchtbar anstrengend. Ich nutze meinen Stock auch, wenn ich mit Freunden unterwegs bin.) Bloom vermutet richtig, dass sich die anderen Sinne schärfen, sobald der Visus ausfällt. Der Geschmackssinn ändert sich allerdings nicht. Darin irrt Bloom. Es heißt zwar: „Das Auge ißt mit“, aber wer hat noch nicht erlebt, dass verführerisch aussehende Lebensmittel und Gerichte fad schmeckten?! Auch muss man Blinde nicht füttern, weil sie lernen, mit dem Besteck zu erkunden, was sich auf dem Teller befindet. Ich bin nicht sicher, ob der Geruchssinn Blinder ausgeprägter ist. Sie achten nur mehr darauf. Sind Blinde grundsätzlich mißtrauischer gegenüber dem, was man ihnen so erzählt, wie Bloom annimmt? Kommt drauf an. Im Allgemeinen wahrscheinlich nicht. Sie haben ein feines Gehör, ein Sensorium für Nuancen menschlicher Stimmen. Und warum sollte sich wer die Mühe machen, Blinden in einer Tour Bären aufzubinden? (Okay, als ich kurz nach meiner Erblindung mit einem Pflegedienst Einkaufen ging, gab es im Supermarkt zufällig immer all das gerade nicht zu kaufen, was die Leute vom Pflegedienst nicht fanden oder nicht kannten.) „Augenlose Füße“? I wo. Beim Mobilitätstraining musste ich sagen können, ob ich jeweils auf Beton, Plastersteinen, auf Rasen oder einem Sandweg laufe. Das spüren die Füße. Und dann ist da die schwer zu erklärende Sache mit dem Schallecho, das dumpfer klingt, wenn beispielsweise viele Gegenstände auf einem asphaltierten Hof stehen – Bloom nennt das „Sinn für Volumen“ und hat damit Recht. Auf den Großstadtstraßen ist es im Alltag allerdings viel zu laut, um solche Feinheiten herauszuhören. Klappt aber zu bestimmten Zeiten auf den Gängen von U-Bahnhöfen. im Wald oder auf der Wiese ist das Ganze wiederum völlig zwecklos. Was Blinde so alles lernen können, resümiert Bloom: „Lesen mit den Fingern“ und „Stimmen Klaviere“, ganz „baff“ mache das die Menschenwelt der Hingucker, dass „sie überhaupt ein Hirn haben“. Danke, Mr. Bloom. „Wieso finden wir eigentlich einen Krüppel oder einen Buckligen besonders schlau, wenn er was sagt, was wir auch hätten sagen können?“ Exakt! „Natürlich sind die andern Sinne mehr.“ Blinde verstehen sich auf alle möglichen Fingerfertigkeiten. Sprengsätze würde ich sie allerdings nicht entschärfen lassen, lieber Bloom. Auch Goldschmiedearbeiten, das Uhrmacherhandwerk, das Diamantenschleifen und der Beruf von Chemikern und Laboranten klappen weniger gut. Mit Grafischem sind Blinde bis heute auch nicht so schrecklich familiär. Wenn es sich in Sprache, Töne oder Geräusche   übersetzen oder in 3-D-Objekten modellieren lässt, ist es für Blinde wahrnehm- und erfassbar, sonst nicht.

Ist Sex bei Blinden intensiver? Da er durchs Sehen weder besser noch schlechter wird – siehe „Das Auge ißt mit“, täuscht aber auch -, kann man mit Blinden genauso guten wie genauso schlechten Sex haben wie mit Sehenden. Welche Farbe Haut oder Haar eines Menschen haben, ist für Blinde nicht zu erschließen, seine Körperkurven, Fülle, Weichheit, Zartheit  oder Magerkeit schon. Auch sein Parfüm bzw. sein Odeur.

Der Anzug aus billigem Fischgräten-Tweed, den Bloom an dem jungen blinden Mann bemerkt, ist etwas einerseits Soziales – wenn Sie als blinder Mensch in die Armut oder in den Reichtum hineingeboren werden, hat das mit ihrem Sehvermögen nichts zu tun -, und wie Sie sich als Blinder kleiden ist heute (!) im Westen andererseits etwas zutiefst Individuelles. Stimmt schon, in den meisten Weltgegenden ist es entscheidend, ob man als blinder Mensch Sproß einer betuchten Familie oder armer Schlucker ist. In der Bundesrepublik nicht. Und man darf nicht vergessen: Es nützt Ihnen wenig, wenn sie über die besten Lehrer und Hilfsmittel verfügen, aber keine Begabung, kein Geschick, keine Motivation etc.pp haben, sich damit die Welt zu erschließen. Digitalisierung ist für Sehende und Blinde nur dann ein Segen, wenn sie zugleich verstanden haben, dass Computer Rechner sind, folglich schneller und besser  rechnen können als Menschen, aber eben nicht zu denken vermögen. Selbst die ausgefeilteste künstliche Intelligenz wird immer nur können, was Menschen ihr zuvor beigebracht haben. Wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, ob wir künftig weniger antisemitisch sein werden und wie sich die Versorgungslage mit Lebensmitteln und energie weltweit gestalten wird, hängt nach wie vor weitgehend von uns ab und lässt sich nicht vorausberechnen.

Blooms-Day war übrigens letzten Donnerstag. Ist also längst vorbei. Für ein Jahr. Heute aber hat Salman Rushdie Geburtstag, der Schöpfer der „Satanischen Verse“, die ich himmlisch finde. Schöne Woche!