Auf die Idee, der Islamismus sei eine Ausgeburt des Westens, kommt man nicht so leicht. Es sei denn, man irrlichtert auch sonst durch die Welt. Erinnern wir uns an die kommunistische Faschismus-Definition der 1920/30er Jahre: Faschismus sei die Terrorherrschaft des Kapitals, ergebe sich gesetzmäßig aus der kapitalistisch-imperialistischen Ordnung der modernen liberalen Demokratie. Dass diese erst abgeschafft werden musste, damit sich Nationalsozialismus und Faschismus entfalten konnten und dass sie daran kräftig mitgewirkt hatten, übersahen die damaligen Kommunisten allerdings ebenso wie der gesamte spätere Ostblock und das linksextremistische Milieu der deutschen Studentenbewegung mit ihren antikapitalistischen und antiimperialistischen Parolen. Den Staatskapitalismus des Ostblocks blendeten sie genauso aus wie den Imperialismus der Sowjetunion. Gelegentlich muss man Linke daran erinnern, dass Faschisten und Nationalsozialisten genauso antiwestlich gewesen sind, wie das ihre Rivalen, die Kommunisten und die Islamisten waren. Es ist also nicht so schwer, die Argumentationsfigur vom Islamismus als einer Reaktion auf den Westen zu durchschauen.
Hassan al-Banna, der 1928 in Ägypten die Muslimbruderschaft begründete, soll bloß eine „ambivalente“ Figur gewesen sein? Mehr nicht? Na dann. Dergleichen hört man von der emeritierten Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer, die auch die Idee, dass der Westen – dialektisch, versteht sich – die Muslimbruderschaft hervorgebracht habe. Al-Banna war, wie im Übrigen viele seiner Zeitgenossen nicht nur in Nazi-Deutschland, sondern auch in Europa, dem Nahen Osten oder Südamerika, ein glühender Hitler-Verehrer und auch ein Fan von Haj Amin al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, Begründer der palästinensischen Nationalbewegung und Partner Hitlers, Himmlers und Adolf Eichmanns. Alles keine Freizeit-Antisemiten. Der Mufti war in das NS-Regime ebenso verstrickt wie in die Shoa, die allerdings mit den NS-Massenerschießungen von Juden nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 längst begonnen hatte, als der Mufti im nationalsozialistischen Berlin eintraf und von Adolf Hitler höchstpersönlich empfangen wurde. Bei al-Husseinis Ankunft in Ägypten, wo er nach Ende des Zweiten Weltkriegs und seiner Flucht aus Frankreich auf Betreiben der Muslimbrüder 1946 Asyl erhielt, empfing ihn Hassan al-Banna mit den Worten:
„Der Mufti ist soviel wert wie eine ganze Nation. Der Mufti ist Palästina, und Palästina ist der Mufti. O Amin! Was bist Du doch für ein großer, unbeugsamer, großartiger Mann! Hitlers und Mussolinis Niederlage hat Dich nicht geschreckt. Was für ein Held, was für ein Wunder von Mann. Wir wollen wissen, was die arabische Jugend, Kabinettsminister, reiche Leute und die Fürsten von Palästina, Syrien, Irak, Tunesien, Marokko und Tripolis tun werden, um dieses Helden würdig zu sein, ja dieses Helden, der mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands ein Empire herausforderte und gegen den Zionismus kämpfte. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“ (Quelle: Jeffrey Herf: Hitlers Dschihad: Nationalsozialistische Rundfunkpropaganda für Nordafrika und den Nahen Osten. (pdf; 372 kB) In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. München, 2010, S. 284–285).
In der politischen Kooperation von Hassan al-Banna und Mohammed Haj Amin al-Husseini, der sie vom Beginn seiner Laufbahn an repräsentierte, gingen die beiden speziell nahöstlichen antiwestlichen Bewegungen Panislamismus und Panarabismus Hand in Hand. Wieso antiwestlich? Wahr ist, dass der Hass auf den Westen, die Aufklärung, den modernen Rechtsstaat und die Demokratie immer auch eine innerwestliche Angelegenheit gewesen ist. Die totalitären Bewegungen Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus entstanden in Europa im Laufe des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts und parallel dazu der politische Islam im Nahen Osten und Nordafrika. Gewiss, die Kommunisten waren keine Feinde der Aufklärung, sondern betrachteten sich als Vollendung derselben. Aber bitte ohne selbständig denkendes Individuum, ohne Gewaltenteilung und ohne solchen überflüssigen bürgerlichen Schnickschnack wie individuell einklagbare Menschenrechte, ohne Meinungs-, Wissenschafts-, Kunstfreiheit und Marktwirtschaft.
In ihrem Buch „Okzidentalismus, Der Westen in den Augen seiner Feinde“ von 2004 zeigen Ian Buruma und Avishai Margalit, welche emotionalen und intellektuellen Kräfte die Modernisierungsabwehr in dieser Zeit weltweit entfaltete. Verkürzt gesprochen: Okzidentalismus ist nichts anderes als dieser antiwestliche furor und Hass. Die einstigen Pan-Bewegungen in Europa und dem Nahen Osten zählen zu seinen frühen Akteuren, ob Pangermanismus, Panslawismus, Panislamismus oder Panarabismus. Aber standen Hassan al-Banna und die Muslimbrüder am Beginn des Islamismus? Nicht ganz.
Der Islamismus, der im letzten Drittel des 19. Und Anfang des 20. Jahrhunderts in islamisch geprägten Ländern entstanden war, verstand sich, das ist seltsam genug, als Reformbewegung. Gebildete Muslime fragten sich, wieso ihre Gesellschaften im Vergleich zu denen in Westeuropa so hinterherhinken, kurzum: rückständig sind. Anstatt einen der Faktoren dafür im Islam zu sehen, der keinerlei Trennung von Staat und Religion, von weltlicher und religiöser Sphäre kennt – was weder im Judentum noch im Christentum der Fall ist, weshalb die Alternative von Koran und Kaserne bis heute die einzige gelebte in der islamischen Welt ist -, hielten die Islamisten gerade an ihm fest. Durch die Rückkehr zu den Quellen, zu den Lehren des Koran, sollten die Muslime fit für die Moderne gemacht werden. Das war bis weit in die 1920er Jahre hinein eine Angelegenheit von Akademikern, ist mit Namen wie Dschamal ad-Din al-Afghani, Mohammed Abdou und Raschid Rida verbunden. Reform bedeutete für sie: Back tot he roots, zurück in die Frühzeit des Islam, und eben nicht – was später übrigens Anwar as-Sadat, der als ägyptischer Staatspräsident 1978 mit Israel Frieden schloss, tatsächlich praktizierte – die Umwandlung einer alle Lebensbereiche beherrschenden Religion in eine Privatangelegenheit. Die frühen Islamisten glaubten, dass der moralische Sittenverfall, die Verderbtheit der modernen Frau, die religiöse Nachlässigkeit des modernen Menschen etc.pp die Hauptschuld am schlechten Zustand der islamischen Gesellschaften und an ihrer mangelnden Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Europa trügen. Die Islamisten gaben vor den Islam modernisieren zu wollen, islamisierten aber de facto die Moderne.
Im Übrigen hatten wir in Europa ganz ähnlich rückwärtsgewandte Erscheinungen: Man denke an die Re-Katholisierung in der deutschen Spätromantik, an die protestantische Stoecker-Bewegung und die Antisemitenparteien, an den Wiener Bürgermeister Karl Lueger mit seiner Christlich-sozialen Partei. Parallel dazu hatten wir in Deutschland den Germanenmythos als Kristallisationspunkt einer neo-paganen = neuheidnischen und antichristlichen Bewegung. Man sah kein Problem darin, das Christentum als orientalischen Humbug abzulehnen, bewunderte und förderte aber die arabisch-islamische Kultur. In diese Ecke gehört die Nationalsozialistin und Rechtsextremistin Sigrid Hunke, deren Buch „Allahs Sonne über dem Abendland, Unser arabisches Erbe“ aus den 1960er Jahren 2001 neu aufgelegt wurde https://de.wikipedia.org/wiki/Sigrid_Hunke. An Arabern und Islamisten hatten die Nazis und die Rechtsextremisten lange Zeit nichts auszusetzen. Man denke nur an die guten Beziehungen, die FPÖler wie Jörg Haider zu arabischen Diktatoren pflegten. Die NPD hielt das nicht anders. Wenn heute die AfD und Pegida verlogen ein angeblich jüdisch-christliches Abendland beschwören, das von einer Islamisierung bedroht würde, gebärden sie sich fremden- oder ausländerfeindlich und leugnen en passant die oft eliminatorische Judenfeindschaft der christlich-abendländischen Kultur. Die Feindschaft gegen Muslime, die sich heute in der AfD oder Pegida ausdrückt, hat die Struktur eines Vorurteils, anders gesagt: einer falschen Verallgemeinerung. Die meisten hier lebenden Muslime sind nicht organisiert, der politische Islam hat folglich keine repräsentative Kraft. Der Zentralrat der Muslime, der der Muslimbruderschaft nahesteht schon gleich gar nicht.
Gudrun Krämer zufolge sei der Antisemitismus Al-Bannas und der Muslimbrüder wirtschaftlich und politisch begründet gewesen, aber nicht rassistisch und kulturell. So wirklich verständlich ist diese Aussage nicht. Ist der nahöstliche Antisemitismus deshalb weniger schlimm, weniger eliminatorisch oder gar gerechtfertigt??? Es ist richtig, dass der Rasseantisemitismus die bislang folgenreichste Form der Judenfeindschaft in der Menschheitsgeschichte gewesen ist. Das hat allerdings weniger mit dem Rassedenken der Nazis zu tun. Der Antisemitismus ist deshalb kein allgemeiner Rassismus, weil er seine eliminatorische Kraft aus dem christlichen Antijudaismus bezog, dessen Stereotype er lediglich umformulierte, zeitgenössischen Bedürfnissen und Erfordernissen anpasste. Vom Rassismus als solchem hing nicht so viel ab, denn die Rasseantisemiten sahen in Juden nicht eine Rasse unter vielen anderen, die es zu unterwerfen galt, sondern eine Gegenrasse, mit der sie einen Kampf auf Leben und Tod glaubten führen zu müssen. Unschwer sieht man hier das manichäische Weltbild von Gut und Böse sowie die reformulierte und radikalisierte christliche Überzeugung am Werk, dass Juden Propheten- und Christusmörder seien. Gewiss, es gab für Juden ab 1933 nicht mehr die Möglichkeit, sich der NS-Verfolgung durch Taufe oder Anpassung zu entziehen. Aber weder das eine noch das andere hatte vor 1933 oder vor den Nürnberger Rassegesetzen sonderlich gut funktioniert und war eine Illusion geblieben. Deshalb: Den Rasseantisemitismus grundiert der christliche Antijudaismus. https://www.sylke-kirschnick.de/2022/01/02/all-you-need-is-love-koennen-juden-christen-und-muslime-sich-ueber-ihre-religioesen-ueberlieferungen-einig-werden/
Der Mufti übernahm, by the way, recht rasch das rassebiologische wording der Nazis.
Der Antisemitismus der Muslimbrüder sei nicht kulturell gewesen? Das ist eine kühne These, die sich nicht halten lässt. Erstens wird die islamische Judenfeindschaft praktisch qua Haus mitgeliefert. https://www.sylke-kirschnick.de/2021/12/03/warum-der-vergleich-von-juden-und-islamfeindschaft-die-leugnung-von-islamischem-antisemitismus-erzwingt/ Zweitens hatte die Gründung der Arabischen Liga 1945/46 gar keinen anderen Zweck, als sich auch kulturell und sprachlich gegen den Zionismus und die Anwesenheit von Juden in der Region zu positionieren. Antizionismus aber ist Antisemitismus, auch wenn der Zionismus bis 1933 unter Juden kontrovers diskutiert worden war. Gegen einen jüdischen Staat inmitten islamisch geprägter Kulturen zu sein, hieß, die alte Dhimmy-Ordnung zu verteidigen, wonach Juden alles Mögliche durften, außer gleichberechtigt und gleichgestellt erfolgreich ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen und ausüben.
Wirtschaftlich und politisch begründeter Antisemitismus? Wodurch unterschied sich dieser von dem der Nazis? Als hätten Juden in Europa faktisch wirtschaftliche oder politische Macht ausgeübt! Das taten sie ebenso wenig in Nordafrika oder im Mittleren Osten. Das Märchen von der durch Juden ausgeübten wirtschaftlichen und politischen Kontrolle gehörte zu den zentralen Stereotypen des (Rasse)Antisemitismus, ob nun in Europa, Nordamerika oder in der MENA-Region.
Fazit: Der Islamismus in islamisch geprägten Ländern ist so hausgemacht wie der Faschismus/Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa, vor allem in Deutschland und in Italien. Der Antisemitismus der Muslimbruderschaft unterscheidet sich vom europäischen nur in Nuancen und durch die Tatsache, dass es Nazi-Deutschland gelang, sein Vernichtungsprogramm, die Shoa, umzusetzen. Eliminatorisch aber ist auch der israelbezogene Antisemitismus, mit dem wir es heute zu tun haben.