„Jibb ma her dein Kübel, drach ick dir runta“, sagt die Frau mit dem Hund. Mit „Kübel“ meint sie meinen Hackenporsche, die große Einkaufstasche auf zwei Rädern, die man hinter sich herzieht. Mit „runta“ meint sie die Treppe, die vom Park auf den Weg um den Weissensee führt. Dort finde ich mich zurecht und leicht nach Hause. Im Park gelandet bin ich ohnehin nur, weil eine abgesperrte Stelle des Gehwegs zu umgehen gewesen ist. Ich mag solche Alltagsbegegnungen über die Dankbarkeit für die Hilfeleistung hinaus sehr. Man erfährt, was um den Weissensee herum so passiert. War traurig dieses Mal: Jugendliche, deutsche und arabische, sagt die Frau mit dem Hund, hätten die Eier des Schwanenpärchens, das am See wohnt, kurz vor dem Schlüpfen der Jungen mit Steinen zertrümmert. Das regt die Leute hier furchtbar auf. Mich auch. „Und wenn ick wat saache, rufen die mir ‚Nazi'“, empört sie sich. Zu Recht! Auch das eine ungute Entwicklung, von der nur die inzwischen lupenrein rechtsextreme AfD profitiert. „Früha bin ick mim Hund ooch nachts um See, aba det mach ick nu nich mehr“, erzählt sie weiter. Dass es im vergangenen Sommer mit nächtlichen Partys, Grölereien und krachend lauter Musik noch bis in den weit fortgeschrittenen Morgen etwas übertrieben wurde, sagen mir außer der Frau mit dem Hund auch meine Nachbarn im Haus. Hab das selber erlebt, als ich gegen halb acht Uhr morgens unter dem Schwang und Klang schwerer Bässe um den See gelaufen war. Doch all das ist es nicht, das mich heute beschwert.
Es fahren mal wieder wochen-, ja monatelang keine Straßenbahnen auf unserer Hauptverkehrsstraße. Ausweichen auf den Ersatzverkehr mit Bussen, ist schon für Sehende kompliziert, für Blinde ohne Hilfe nicht machbar. Hinzu kommt, dass die Gehwege wegen Bauarbeiten streckenweise nicht passierbar sind. Ich kann, was ich ohne Murren machen würde, nicht tun: Die drei Haltestellen bis zu jenem Supermarkt zu Fuß zurücklegen, in dem ich ohne Diskussion eine freundliche Einkaufshilfe bekomme. Sind solche langen Verkehrsausfälle, wie wir sie hier regelmäßig seit zwei Jahren im Frühjahr und im Herbst erleben, schon für Sehende purer Stress, so wirft sie den Alltag Blinder nicht nur aus der Bahn. Sie macht ihn unmöglich. Nicht jeder blinde Mensch ist so drauf wie ich, die einfach losläuft in der Hoffnung, dass sie schon wen trifft, der oder die weiterhilft. Das geht auf diese Weise allerdings höchstens zwei, drei Mal, ganz sicher nicht wochen-, gar monatelang. Denn aus dem Hindernislauf, den man anfangs noch ganz gut bewältigt, wird spätestens ab dem vierten Mal unguter Stress. Übrigens auch für Rollstuhlfahrer und Menschen, die mit einem Rollator unterwegs sind. Die können die Hürden, anders als ich, zwar sehen, aber so wenig wie ich rasch überwinden.
Die Bauarbeiten sind nötig, keine Frage. Doch regelmäßig werde ich durch sie überrascht! Weshalb werden Schwerbeschädigte darüber nicht gezielt informiert, damit sie bereits im Vorfeld Abhilfe schaffen können?! Es geht immerhin um Luxus wie Arztbesuche oder Einkäufe von Lebensnotwendigem. Das erste Mal erfuhr ich von längeren Straßenbahnausfällen im September 2019 durch einen netten Taxifahrer, der zufällig das aufgestellte Schild las, als er mich nach einer Vortragsreise vom Hauptbahnhof nach Hause fuhr. Das nächste Mal erzählte mir davon zufällig der Koch vom Seniorenheim. Ein weiteres Mal hörte ich zufällig während einer Unterhaltung in der Straßenbahn über anstehende Gleisbauarbeiten. Meine ebenfalls blinden Nachbarn wissen auch nicht immer Bescheid und falls doch, haben sie zuvor für diese Infos Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt.
Weshalb setzt sich niemand in der Bezirksverwaltung und im Abgeordnetenhaus dafür ein, dass Problemlösungen unter Berücksichtigung schwerbeschädigter Leute gefunden werden? Wozu gibt es Behindertenbeauftragte? Bitte, ich muss als Blinde nirgends extra vertreten werden, wenn dadurch noch nicht mal das Selbstverständlichste klappt: Dran denken, was all das beispielsweise für Leute im Rolli, für Gehbehinderte oder Blinde bedeutet!