Marine Le Pen ist eine Rechtsextremistin und als solche sowohl Pest als auch Cholera. Gleiches gilt für den Linkspopulisten Jean-Luc Melenchon. Und Emmanuel Macron? Ist weder das eine noch das andere und als überzeugter Europäer, Demokrat und Rechtsstaatler weder Pest noch Cholera.
Woher kommt die unsinnige Aussage, die Franzosen hätten gestern keine Wahl gehabt, weil angeblich nur „Pest“ oder „Cholera“ auf den Stimmzetteln gestanden hätten? Gehört hatte ich das gestern Morgen von der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot, die eine Professur für Europapolitik in Bonn innehat. Sie denkt gerne mal darüber nach, was nach (!) der Demokratie kommt und wetterte in den letzten beiden Jahren gegen die Corona-Politik – ein Blick nach Shanghai dieser Tage dürfte den Unterschied zwischen Corona unter den Bedingungen einer Demokratie und den Bedingungen einer Diktatur erhellen. Guerots Feindbilder heißen Neoliberalismus, den sie konsequent mit dem äußerst vielgestaltigen europäischen Liberalismus verwechselt, und Nationalstaatlichkeit, die sie nicht von Nationalismus zu unterscheiden vermag, weshalb sie gleich beides, besser gesagt: alle vier, Neoliberalismus, Liberalismus, Nationalstaat, Nationalismus in einem Abwasch zu erledigen wünscht. Das ist für eine seriöse Politikwissenschaftlerin ungewöhnlich, für eine beinharte Ideologin hingegen typisch. Die Parole, wonach die Wahl zwischen Le Pen und Macron eine zwischen „Pest und Colera“ gewesen sei, hat Guerot nicht erfunden, aber zumindest gestern auf Einladung der Moderatorin, die Macron für einen Neoliberalen hält, im Deutschlandfunk durch den Äther gejagt. Als Analyse kann dergleichen natürlich nicht durchgehen, aber wenn man von Journalisten so warm und herzlich zum intellektuellen Harakiri eingeladen wird, kann man als Mensch offenkundig schwer widerstehen.
Frankreich, das weiß, wer sich regelmäßig informiert, hat wie jede liberale Demokratie, die sich immer durch Unvollkommenheit auszeichnet, einen Haufen Probleme. Zum Teil sind sie recht charakteristisch für unsere Gegenwart und schlagen auch anderswo heftig zu. Da sind die großen Unterschiede zwischen den Regionen, die entweder brummen oder abgehängt sind, von der Globalisierung profitieren oder durch sie ins Aus katapultiert wurden. Da sind die vielen sozialen Härten und Unwägbarkeiten, für die Macron keine Lösungsansätze entwickelt hat, die ihm aus dem Blick gerieten und nun auf die Füße fallen, weshalb ein autoritärer Melenchon – ich halte Frau Guerot für sein deutsches Pendant und für mindestens ebenso autoritär – daraus demagogisches Kapital schlagen konnte. Ich kenne Frankreich nicht gut genug, um die innerfranzösischen Verhältnisse exakt beschreiben zu können. Nur so viel noch: Frankreich war schon immer ein zentralistisch regierter Staat und für eine entwickelte liberale Demokratie ist das ab einem bestimmten Zeitpunkt furchtbar abträglich. In der Bundesrepublik haben wir mit dem Föderalismus deutlich bessere Karten.
Man muss kein Ralf Dahrendorf sein, um wie er begreifen zu können, dass moderne Massendemokratien bislang nur auf nationalstaatlicher Ebene funktioniert haben. Für ein demokratisches Europa sind die Nationalstaaten in der bislang bekannten Form unabdingbar. Ob sie eines Tages europäische Bundesstaaten werden, wird sich zeigen. Das paneuropäische Projekt von Richard Coudehove-Kalergi ist schon fast Wirklichkeit geworden. Die Vereinigten Staaten von Europa wären durchaus eine überlegenswerte Idee, wenn damit ein strikter Föderalismus einherginge. Dass die Europäische Union demokratisiert und gründlich reformiert werden muss, steht außer Frage. Nur halte ich jemanden wie Macron für geeigneter als Windbeutel wie Guerot, solche Kraftakte zu vollbringen. Guerot scheint so etwas wie eine bloß säkularisierte Reichsidee vorzuschweben, wenn sie von einer europäischen Republik fabuliert, die dann die alten feudalen Regionen als Verwaltungseinheiten reanimiert. Das ist so ziemlich das Gegenteil von Demokratisierung. Mit der EU verbinde ich noch ganz andere Bauchschmerzen: Die desaströse Haltung gegenüber dem Staat Israel und die unausgesetzte Blanko-Förderung der Palästinenser, egal, ob die ihren Judenhass kultivieren und zelebrieren oder – weil die EU ihre Transfers davon abhängig machen würde – eben nicht. Judenfeindschaft ist ein europäisches Problem, nicht nur ein deutsches.
Übrigens überblicke ich noch immer nicht, was Guerot unter Demokratie versteht. Dass es gerade in Flächenstaaten einer Fülle Institutionen und Instrumentarien = vermittelnder und repräsentativer Instanzen bedarf, damit Demokratie überhaupt funktionieren kann, müsste einer Politikwissenschaftlerin eigentlich klar sein. Dass Demokratie nicht dort herrscht, wo bloß das passiert, was ich (Ulrike Guerot) gern möchte, auch wenn ich, was ich möchte in eine Wir-Form kleide und in der Lage bin, diesen und jenen zu nennen, der ganz meiner Meinung ist, lernen im Idealfall bereits die Gymnasiasten im Politikleistungskurs. „Macron repräsentiert mich nicht.“, „Er steht nicht für mein Frankreich.“, waren O-Töne, die vor und nach dieser Präsidentschaftswahl zu hören waren. Okay, aber es geht in einer liberalen Demokratie nicht darum, dass ich persönlich mich in einer demokratisch gewählten Figur wiederfinde oder vertreten ( = repräsentiert) fühle, sondern darum zu akzeptieren, dass ein Kandidat in einem Wahlverfahren die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte, auch wenn dieser Kandidat nicht der ist, für den ich votiert habe. Dieses narzisstische „Not in my name“ bzw. „Nicht in meinem Namen“, das sich seit Jahren überall dort Bahn bricht, wo Menschen glauben, sie könnten ihrem Unmut nur dadurch lautstark Gehör verschaffen, dass sie demokratisch legitimierten Amtsinhabern absprechen, politisch zu handeln, ohne vorher das Einverständnis jedes einzelnen Staatsbürgers eingeholt zu haben. Angela Merkels Flüchtlingspolitik war aber nicht deshalb falsch, weil sie nicht mich vorher gefragt hat, sondern weil sie es unterließ, das Parlament und die EU einzubeziehen. (Welche Maßnahmen und Kosten haben eigentlich die Golfstaaten unter- und übernommen, um die Not der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak zu mildern?) Die Russlandpolitik von CDU und SPD war nicht deshalb falsch, weil Merkel und Steinmeier nicht mich vorher gefragt hatten, sondern weil sie die nackten Fakten von Putins Politik und die vielen warnenden Stimmen osteuropäischer Politiker und Osteuropa-Experten stur ignorierten. Über die Corona-Politik der letzten beiden Jahre kann man sicher streiten – ich fand sie angemessen -, aber so zu tun, als hinge Wohl und Wehe der liberalen Demokratie von der Sichtweise der Maßnahmenkritiker a la Guerot ab, ist insofern absurd, als es eine Fülle widerstreitender Positionen in den Medien, den öffentlich-rechtlichen und den privaten, gegeben hat.
Befremdlich finde ich es, dass eine Politikwissenschaftlerin, der offenkundig die basics fehlen, Macron bei allem, was an seiner Politik kritikwürdig ist, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu „Pest“ oder „Cholera“ erklären darf, ohne prompte Nachfragen der Moderation zu provozieren, und ohne sachlich erklären zu müssen, wieso die Franzosen gestern keine Wahl gehabt haben sollen!