Handelt es sich an der polnisch-belarussischen Grenze um Schutzsuchende, die Anspruch auf Prüfung eines Asylantrags haben, oder sind es einwanderungswillige Menschen, die ein neues Leben in Europa beginnen wollen, sind es Arbeitsmigranten, Bürgerkriegsflüchtlinge oder politisch Verfolgte? Das ist die entscheidende Frage.
Das Asylrecht ist nicht dazu geschaffen worden und war auch nie dazu da, Einwanderung zu regeln. Gleiches gilt für die Genfer Flüchtlingskonvention. Man kann weder auf dem einen noch auf dem anderen Ticket legal in europäische Staaten einwandern. Das ist gut so, denn beides muss wirklich Schutzsuchenden vorbehalten bleiben. Schon die syrischen und irakischen Bürgerkriegsflüchtlinge von 2015 waren in den Anrainerstaaten sicher und dort nicht mehr an Leib und Leben bedroht. Paul Collier hat bereits damals darauf hingewiesen, dass all unsere Kapazitäten in Staaten wie Jordanien oder den Libanon hätten fließen sollen. Denn die Bürgerkriegsflüchtlinge, die es bis nach Europa schafften, waren faktisch Einwanderer und längst keine Schutzsuchenden mehr. Es gibt in der Türkei und im Libanon Unruhen in der autochthonen Bevölkerung, die nicht darauf eingestellt gewesen ist, die enorme Menge an Flüchtlingen für so viele Jahre aufzunehmen. Der Libanon hat darüber hinaus schwerwiegende interne Probleme erstens mit dem Proporzsystem und zweitens mit der Hisbollah.
Die Flüchtlinge, die jetzt an der polnisch-belarussischen Grenze ausharren sind einwanderungswillige, aber nicht -berechtigte Menschen. Sie haben in der Regel Unsummen investiert und vieles aufgegeben, um Schlepper zu bezahlen, die sie in eine ungewisse Zukunft geführt haben. Letzten Sonntag hörte ich im Deutschlandfunk morgens beiläufig zum Frühstück das Interview mit einem Konflikt- und Migrationsforscher, der die Eigenverantwortung der Migranten in Anschlag brachte. Zu Recht, wie ich finde. Es handelt sich um erwachsene Menschen, von denen man erwarten können muss, dass sie sich gedanklich all den zu erwartenden Strapazen und auch einem möglichen Mißlingen stellen, bevor sie sich auf den Weg machen. Dazu zählt die Tatsache, dass sie formaljuristisch illegale Einwanderer sind, sobald sie die polnische Grenze passieren. Dessen ungeachtet versteht sich ihre Versorgung und menschliche Behandlung von selbst. Die Berichte verunglückter, verfrorener und sogar toter Migranten auf polnischem Territorium in den letzten Wochen waren schwer auszuhalten und verstörend. Einigen Statements irakischer Rückkehrer zufolge, hätten viele von ihnen nicht die geringste Chance auf einen erfolgreichen Asylantrag gehabt.
Ein Menschenrecht auf Einwanderung, das ist in den vergangenen Jahren oft wiederholt worden, existiert nicht. Mit ihrem Arbeitsvertrag in den Vereinigten Staaten endete auch immer die Aufenthaltsberechtigung meiner nichtamerikanischen Freunde und Bekannten dort. Es war egal, ob sie gut und passend ausgebildet waren oder hochqualifiziert. Entweder hatten sie einen sich anschließenden neuen Arbeitsvertrag oder sie wollten bzw. mussten zurückkehren. So funktionieren klassische Einwanderungsländer: nach außen restriktiv, nach innen sehr offen. Die Bundesrepublik benötigt endlich ein Einwanderungsgesetz!
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl wandte sich nach dem Mauerfall an die Ostdeutschen mit der Aufforderung, im Osten zu bleiben. Sie müssten nicht zur Demokratie kommen, diese käme vielmehr absehbar zu ihnen. Wäre ein Drittel der 17 Millionen DDR-Bürger in den Westen geflohen, hätte das nicht nur die Aufnahmekapazität der damaligen Bundesrepublik gesprengt, es wäre auch niemand mehr dagewesen, der den Osten hätte demokratisieren können. Verglichen mit den anderen ehemaligen Ostblockstaaten war die politische und gesellschaftliche Transformation, die längst nicht abgeschlossen ist, im Nachhinein ein Kinderspiel. Ob Demokratisierung gelingt oder nicht, hängt nicht von der historischen Vergangenheit ab, sondern von den aktuellen Akteuren. Ostdeutschland hat diese Erfahrung im 20. Jahrhundert zwei Mal gemacht: 1933 mit der zugunsten einer NS-Diktatur abgeschafften Weimarer Demokratie und 1949 mit der zugunsten einer anders gearteten SED-Diktatur im Keim erstickten, erneuten Demokratisierung. 1949 hatten die Ostdeutschen wie die Westdeutschen immerhin einen mörderischen Vernichtungskrieg gegen die stalinistische Sowjetunion geführt, fast ganz Europa verheert und die europäischen Juden ermordet. Das macht einen riesigen Unterschied zum Jahr 1933, rechtfertigt aber nicht, sich ein zweites Mal der zwar mühsamen, aber lohnenden und befreienden Anstrengung entzogen zu haben, ein mündiger Mensch und Bürger zu werden. Das ist man auch in einer liberalen Demokratie nicht automatisch. Es gibt zwei Möglichkeiten, es zu werden: entweder man erkämpft Demokratie und Rechtsstaatlichkeit oder man sorgt dafür, dass sie weiter existiert, wenn man sie schon hat, weil man sie andernfalls nicht behält.
Im Nahen Osten ist die politische und gesellschaftliche Situation eine völlig andere. Syrien und der Irak sind failed states. Das hat weder mit Sykes-Picot noch mit der zeitweiligen französischen und britischen Mandatsherrschaft zu tun, denn ersteres hätte im Verlauf der vielen Jahrzehnte, die seither vergangen sind, bilateral begradigt werden können, während letztere spätestens in den 1940er Jahren endete. Jordanien und selbst Saudi-Arabien verdanken als ehemalige osmanische Provinzen ihre Existenz ähnlichen historisch-geopolitischen Voraussetzungen. Daran kann es also nicht liegen. Der Irak-Krieg der Bush-Administration liegt inzwischen auch eine Weile zurück. Man mag ihn verurteilen, kommt indes nicht darum herum zu konzedieren, dass er neben dem Diktator Saddam Hussein auch den in der Region sehr starken Machtfaktor Militär hinweggefegt hat. Statt immer nur auf den Westen zu schauen, wird es Zeit den Einfluss Russlands, des Irans und der Türkei in den Blick zu nehmen. Denn sie sind es, die jeglichem Demokratisierungsstreben, sei es auch noch so zart, die Luft abdrücken, sobald es sich nur irgendwo regt.
In der Region gibt es mit dem Staat Israel bislang nur eine einzige liberale Demokratie. Es könnten sich langsam, aber sicher einige hinzugesellen. Endlich Frieden mit Israel zu schließen, anstatt wie die Hisbollah im Libanon und der Iran ständig den Zionismus und die Vereinigten Staaten bzw. den Westen für die eigene Misere verantwortlich zu machen, wäre ein erster Schritt. Gutnachbarliche Beziehungen zu und künftige Kooperationen mit Israel könnten auf den Fuß folgen. Leicht wird das ganz sicher nicht, weil das Vertrauen derzeit auf beiden Seiten fehlt. Fällt die Feindschaft gegenüber Israel weg, würde das unter Garantie eine Menge Energie und Kraft für Demokratisierungsanstrengungen freisetzen. Israel würde plötzlich Partner sein können. Syrien und der Irak könnten von den jahrzehntelangen Erfahrungen Israels beim Aufbau einer lebensfähigen Demokratie profitieren. Es entstünde dann in Syrien und im Irak selbstredend nicht morgen schon ein Paradies, in dem die Menschen gerne die durch die Luft fliegenden Braten genießen würden und noch nicht mal Arbeitslosigkeit, Mangel an Grundversorgung wie Strom, medizinische Betreuung, Probleme mit Kriminalität und fragilen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen nähmen von heute auf morgen ab. Ein Sozialstaat müsste recht rasch die individuellen Abhängigkeiten in Clan- und Familienstrukturen ersetzen. Eine strenge Antikorruptionsbehörde und eine freie Presse wären als Kontrollinstanzen unabdingbar. All das aber muss vor allem jemand ins Werk setzen und da fallen mir nur die Syrerinnen und Syrer, Irakerinnen und Iraker ein. Der Westen kann nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Und diese Hilfe sollte aus meiner Sicht an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und einen haltbaren Frieden mit dem Staat Israel geknüpft sein.
Situationen wie jene an der polnisch-belarussischen Grenze würden wir dann schon deshalb nicht mehr erleben, weil keine Syrer oder Iraker ihr Land mit Hilfe von Schleppern verlassen würden. Und wenn sie dennoch unbedingt Europäer werden wollen, stünde ihnen der Weg über ein bundesdeutsches Einwanderungsgesetz offen.