„Es ist mir zu Ohren gekommen, o glücklicher König …“ Für das Geschichtenerzählen gibt es immer gute Gründe. Es muss ja nicht gleich wie bei Sheherazad das blanke Überleben sein. Das Wort „Morgengrauen“ hat hier eine Gänsehaut. König Shahryar hatte seine Frau beim Ehebruch ertappt, getötet und beschlossen, jede seiner zukünftigen Frauen nach der Hochzeitsnacht hinrichten zu lassen. Sheherazad, die Tochter des Wesirs, will diese Praxis beenden. Sie heiratet den König, hält ihn mit Geschichtenerzählen davon ab, das Todesurteil zu vollstrecken, weil sie sich bei Tagesanbruch unterbricht, darauf spekulierend, dass der König das Ende der Geschichte erfahren möchte und deshalb die Hinrichtung aufschiebt. Das ist die Rahmenhandlung.
Als ich zum ersten Mal die Erzählungen aus den „Tausendundein Nächten“ las, muss ich um die 18 Jahre alt gewesen sein. Die zweibändige Taschenbuchausgabe aus dem Aufbau-Verlag ist von 1985 und folgt im Wesentlichen der deutschen Übersetzung von Max Henning, der sie Ende des 19. Jahrhunderts für Reclams-Universalbibliothek angefertigt hatte. Geschichten wie die von Aladin mit seiner Wunderlampe, Ali Baba und den vierzig Räubern oder die von Sindbad, dem Seefahrer, kannte ich bereits aus Kino und Fernsehen. Erst später erfuhr ich, dass sie nicht zum Kernbestand der Geschichtensammlung gehörten. Antoine Galland, ein französischer Orientalist hatte sie Anfang des 18. Jahrhunderts der ihm vorliegenden Handschrift hinzugefügt, nachdem er sie, so liest man, von einem orientalischen Christen erhalten hatte. Wann immer ich in einem Satz erklären soll, was Orientalismus ist, weise ich auf die Dessert-Teller von Tante Leonie mit den Aladin- und Ali Baba-Bildmotiven hin, die der Ich-Erzähler im Ersten Band von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschreibt.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Geschichtensammlungen aus den „Tausendundein Nächten“ nach etlichen Skandalen jugendfrei gemacht. Man bereinigte sie um allzu erotische und sexuelle Darstellungen. Forschungen förderten vor Jahrzehnten ältere arabische Handschriften zutage. Um die Jahrtausendwende entstanden neue Übersetzungen. Heute wird in der Geschichtensammlung wieder viel Alkohol getrunken, wird im Rauschzustand miteinander geschlafen, werden Hände abgehackt und Köpfe abgeschlagen, wird bis zur Bewusstlosigkeit gepeitscht, werden Blinde und Bucklige gequält usw.
Viele der Geschichten stammen aus dem Indischen und Persischen. Seit dem 8. Jahrhundert wurden sie ins Arabische übersetzt, islamisiert und fortwährend erweitert. Davon zeugen beispielsweise die Harun ar-Rashid-Geschichten in der Sammlung. Ein gleichnamiger Kalif, der 809 bei einem Feldzug starb, ist historisch-faktisch überliefert, hat aber mit der literarischen Figur in der Geschichtensammlung wenig mehr als den Namen gemein. (Es sei daran erinnert, dass der historische Kalif die Kennzeichnungspflicht an der Kleidung für Juden – gelb – und Christen – blau – aufrechterhielt, die sein Vorgänger angeordnet hatte.)
Durch die Neuübersetzung schälen sich Dramatik und Struktur des Erzählens viel deutlicher heraus. Sheherazad benötigt keine Cliffhanger. Sie bricht oft mitten im Satz einfach ab, um in der darauffolgenden Nacht den abgebrochenen Satz zu wiederholen und anschließend fortzufahren. Zuvor hat ihre Schwester Dinharazad die unterbrochene Geschichte gelobt, worauf Sheherazadversichert, dass das noch gar nichts gegen das gewesen sei, was sie in der kommenden Nacht erzählen wird, falls der König sie verschont und sie am Leben bleibt. Auf diese Weise werden Anlass, Sinn und Zweck des Erzählens unablässig wiederholt und eingebunden.
Die zu Recht vielgerühmte Schachtelstruktur – eine ähnliche, aber nicht vergleichbare findet man im „Dekameron“ – ergibt sich aus der mündlichen Erzähltradition, die verschriftlicht wurde: „Die Leute behaupten, o König, dass der Küchenchef dem Kaiser von China erzählte … dass der jüdische Arzt dem Kaiser von China erzählte, dass der junge Mann ihm berichtete, wie der Wesir, der Gouverneur von Damaskus, zu ihm sagte … dass der Schneider dem Kaiser von China erzählte, dass der Friseur den Anwesenden berichtete, wie er zu dem Kalifen sagte …“ usw. Es wird nicht nur erzählt, dass wer wem erzählt hat und erzählt, sondern beiläufig immer aufs Neue, dass das Mündliche das Entscheidende ist, auch wenn hier und da in den Geschichten etwas zur Aufnahme in Chroniken anempfohlen wird. Die eingeflochtenen Gedichte entwerfen meist einzelne Figuren in Komparativen und Superlativen. Analogien sind nicht selten und das manchmal gröber, manchmal feiner gesponnene Gewebe ist durchsetzt von Korrespondenzen und Spiegelungen. Immer sind es erzählte Schicksale, denen – anders als im „Dekameron“ – nichts Beispielhaftes zu entnehmen ist. Denn das bloße Erzählen selbst, das den Tod auf Distanz hält, gibt das Beispiel.
Sheherazad, Dinharazad, König Shahryar, das Figurenensemble der Rahmenhandlung ist persisch. Explizit wird das vorislamische Sassanidenreich erwähnt. Indien, China, Persien, Griechenland, all das zeigt, dass die Geschichtensammlung weder ausschließlich noch originär arabisch ist. Der Hedschas kommt nicht vor. Bagdad, Basra oder Kairo erinnern an die Kalifendynastie der Abbasiden aus dem Stamm der Haschimiten, die Mitte des 13. Jahrhunderts ihr Ende fand. Ihre Blütezeit erlebte sie vom 8. bis zum 10. Jahrhundert vor allem in den obengenannten Städten.
Zur Weltliteratur aber gehören die „Tausendundein Nächte“ wegen ihrer künstlerischen Qualität. Nicht, weil sie – im Übrigen verhalten – freizügig, fantastisch oder unfromm sind.