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Blind Date mit High-Tech-Langstock?

Meine Dates sind immer blind. Klar, ist leicht übertrieben. Bevor ich zum ersten Mal nach meiner Erblindung die Freunde wiedertraf, mit denen ich mein halbes sehendes Leben verbracht hatte, verspürte ich Nervosität, Aufregung, ja Angst. Vor meiner, nicht vor ihrer Reaktion. Ich fürchtete zusammenzuklappen, weil die Konfrontation von vorher und nachher vielleicht zu intensiv ausfallen würde. Das erwies sich als Irrtum. Unsere Wiederbegegnung war gelöst.

Ich konnte meine Freunde zwar nicht mehr sehen, aber hören, fühlen, spüren, berühren, kurzum auf alle möglichen Arten und Weisen wahrnehmen, über die man verfügt, wenn man inmitten vertrauter Menschen die Augenschließt. Das befürchtete Fiasko blieb damals aus. Kurze Zeit später begann ich das Mobilitätstraining, bei dem man lernt, den Langstock zu gebrauchen. Er ist aus Leichtmetall, besteht aus ineinandergesteckten Rohren an einem Gummizug, ist deshalb faltbar und hat am unteren Ende eine aufmontierte Kugel, mit welcher man den Boden abtastet. Er wird immer mal weiterentwickelt.

High-Tech ist heute für Blinde das Korn im Brot, weshalb sie vom Rüstungswettlauf der Hilfsmittelfirmen enorm profitieren. Kürzlich berichtete die „Welt“ – auch diesbezüglich eine gute Adresse – von der Entwicklung eines neuen, technisch aufgerüsteten Blindenlangstocks, der mit Sensoren und Kamera ausgestattet Hindernisse und ÖNV-Haltestellenschilder erkennt https://www.welt.de/wissenschaft/article234468086/Blindenlangstock-GPS-und-Laser-verbessern-die-Technik-fuer-Sehbehinderte.html.

Ausprobieren? Sofort! Ständig nutzen? Nein! Warum nicht? Weil ein Blindenlangstock erstens zu schwer wäre, wenn ein Kilo Technik dranhängt. Mir berichten Menschen, die länger blind sind als ich, von Gelenkschmerzen und Haltungsschäden durch den täglichen Gebrauch des Stocks auch ohne zusätzlichen Ballast. Ergo ist es wichtig, dass er so leicht wie möglich bleibt. Ich persönlich halte es auch für wichtig, dass man den Stock selber führt, anstatt vom Stock geführt zu werden. Erfordert Konzentration beim Laufen, zugegeben, und macht den Spaziergang nicht entspannter. Schult und trainiert aber das Reaktionsvermögen und den Sinn für die unmittelbare Körperumgebung. Um auf dem Weg zu bleiben, nutzen Blinde außerdem Rasenkanten, kleine Abgrenzbarrieren etc.pp, an denen sie sich orientieren können. In der Wüste wären sie ohne alle Hindernisse ziemlich aufgeschmissen!

Zweitens geht es bei blinder Fortbewegung weder in erster noch in zweiter Linie um Schnelligkeit. Manche Blinde entwickeln auch so schon ein beträchtliches Tempo beim Laufen. Sicherheit ist bei Blinden das A und O im öffentlichen Raum.

Es ist richtig, dass der konventionelle Langstock nur die Barrierefreiheit am Boden und maximal bis zur Brusthöhe checkt. Es passiert mir immer mal beim Spaziergang, dass ich gegen Stiele von achtlos abgestellten Gartengeräten stoße, mit dem Arm an Fahrradlenkern hängenbleibe, herabhängende Zweige von Bäumen oder ausladende Büsche streife oder offene Autotüren und ausgeklappte Ladeflächen von Lieferfahrzeugen auf Gehwegen ramme. Ab Brusthöhe können sich Blinde nicht mehr selber schützen, wenn sie durch die Gegend spazieren. Hier könnte ein intelligenter Stock tatsächlich helfen.

Auch Haltestellen findet man als blinder Mensch nur, wenn man vorher genau weiß, wo sie sind. Welche Straßenbahn oder welcher Bus gerade kommt, müssen Blinde erfragen. Es gab in Berlin ein Modellprojekt, bei dem die Fahrer über Lautsprecher die Nummern von Bahn und Bus ausriefen. Das würde die Anwohner aber besonders nachts stören, was ich gut verstehen kann. (Schon das Klacken der Blindensignale an Ampeln ist nachts, wenn kaum Verkehrsgeräusche stören, recht laut und könnte mit moderner Technik deutlich gedimmt werden.)  Die Bus- und Bahn-Ansagen sind auch unsinnig, wenn kein Blinder an der Haltestelle steht. Ich persönlich komme mit nachdrücklicher, manchmal blind in den Raum gestellter Abfrage zurecht. Die meisten Menschen erlebe ich als hilfsbereit. Allerdings muss wer außer mir in der Nähe sein, was Samstag- oder Sonntagmorgen meist nicht der Fall ist. Manchmal beugen sich Straßenbahnfahrer auch aus der Fahrerkabine und rufen mir liebenswürdigerweise die Nummer zu, nachdem sie mich unter den Wartenden erblickt haben.

Kurzum: Eine kleine sprechende Kamera könnte schon hilfreich sein. Aber ob sie unbedingt am Blindenstock befestigt sein muss? Eine Kamera hilft Blinden ja nur, wenn sie wissen, in welche Richtung sie die halten müssen. Für Sehbeeinträchtigte ist es kein Problem, sie auszurichten. Für Blinde schon. Leichte, flache Aufnäher oder Anstecker, die man in Brusthöhe auf der Kleidung anbringen könnte, würden das Problem eher lösen, glaube ich.