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Brauchen wir mehr Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus? Unbedingt!

Vor allem mit den konkreten Fakten. Die sind, wenn auch keineswegs erschöpfend, so doch im Großen und Ganzen recht gut erschlossen. Seit wenigstens vier Jahrzehnten gibt es dazu universitäre Forschungsarbeiten und populärwissenschaftliche Bücher. Es ist eine an fake news grenzende Legende, dass die Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit erst mit dem Postkolonialismus begonnen hätte, gar durch ihn initiiert worden wäre. Der Postkolonialismus hat die lange vor und unabhängig von ihm existierende Forschung lediglich ideologisiert. Die Arbeiten eines eingeschworenen Postkolonialisten wie Jürgen Zimmerer beispielsweise wurden Anfang der Nullerjahre von Kollegen kritisiert, die mit den Fakten deutscher Kolonialgeschichte bestens vertraut gewesen sind. Auf einer Tagung im Jahr 2015, an der ich teilgenommen hatte, ereiferte sich dessen ungeachtet eine Vortragende darüber, Zimmerer sei „angegriffen“ worden. Doch seine spekulativen Thesen a la „Von Windhuk nach Auschwitz?“ wurden mit stichhaltigen Argumenten widerlegt. Wie es akademisch üblich ist.

Wir verfügen bereits über eine Menge Wissen und Analysen zum deutschen Kolonialismus. All das müssen wir selbstverständlich erweitern und vertiefen. Postkoloniale Ideologie ist dabei weder angemessen noch hilfreich. Vielmehr bedarf es erstens solider Kenntnisse deutscher Geschichte. Man muss wissen, wie das wilhelminische Kaiserreich verfasst war, wer dort welche Entscheidungen in wessen Namen traf, welche Institutionen es gab, wie sich die deutsche Gesellschaft zusammensetzte und welche gesellschaftlichen Konflikte es gab. Denn klar ist: Erna und Friedolin Hahnenfuß waren weder „Kolonialherren“ noch „profitierten“ sie notwendig, direkt oder indirekt vom Kolonialismus. Waren die Hahnenfüße Sozialisten, lehnten sie den Kolonialismus ohnehin rundheraus ab. All das war beispielsweise im Nationalsozialismus völlig anders, denn die Hahnenfüße hatten während der Weimarer Republik ein Wahlrecht und die ab 1933 zugunsten der Hahnenfüße unmittelbar Geschädigten waren ihre jüdischen Nachbarn. Mindestens über die Reichsfluchtsteuer und die durchweg beraubten, in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportierten Juden aus ganz Europa profitierten die Hahnenfüße vom Unrecht, auch wenn sie sich individuell nicht am Eigentum von Juden bereichert hatten.

Zweitens benötigt man konkrete Kenntnisse über die Vorgänge in den einzelnen Kolonien, über deutsche Missionare, Unternehmer, Kolonialbeamte, Wissenschaftler, Militärs, Siedlerfamilien, ihre Taten, ihr Wirken, ihre Beziehungen zu Einheimischen wie auch deren Perspektiven. Kolonialmassaker und der Genozid an Herero und Nama waren mörderische Höhepunkte, aber nicht der Alltag in den Kolonien. Die vielen Fälle grausamer Kolonialpraktiken – man denke an das Wirken eines Carl Peters, der nicht von ungefähr als „blutige Hand“ und „Hänge-Peters“ verschrien war – sollten als solche und als konkrete dargestellt werden. Es gab weder eine staatliche Agenda, die sämtliche Schwarzafrikaner in den deutschen Kolonien solchen Praktiken aussetzte – gegen Peters wurde in Kaiserreich ermittelt, er wurde unehrenhaft entlassen und seine zeitgenössischen Gegner stellten ihn öffentlich als das bloß, was er war: ein mörderischer Rassist – noch ein Vernichtungsprogramm gegen alle Schwarzafrikaner.

Man muss nicht darüber diskutieren, dass der deutsche Kolonialismus verbrecherisch gewesen ist. Vergleichen mit dem Nationalsozialismus, gar der NS-Judenvernichtung – die Aufarbeitung beider  begann in etwa zur gleichen Zeit wie die des Kolonialismus – hält er jedoch nicht stand. Ein weiterer Vergleichsmaßstab wäre ebenfalls unhaltbar: Unser heutiger Lebensstandard, der erstens recht jung und keineswegs für alle gleich hoch ist und zweitens auf der Verfasstheit unserer westlichen Gesellschaften und Staaten beruht, und eben nicht auf der Ausbeutung ehemaliger Kolonien. In ihnen ist der Lebensstandard nicht deshalb niedrig, weil sie einmal Kolonien gewesen sind, sondern weil weder ihre Gesellschaften noch ihre Staatlichkeit so verfasst, aufgebaut und gefestigt sind, dass ihre Bevölkerungen halbwegs sicher und auskömmlich leben können. Selbstverständlich müssen die Staaten im globalen Süden nicht das Modell liberaler Demokratien übernehmen, wenn sie andere Formen finden, ihren Bevölkerungen ein Leben in relativem Wohlstand zu ermöglichen. Wir müssen den deutschen Kolonialismus nicht deshalb aufarbeiten, weil die ehemaligen deutschen Kolonien es andernfalls zu nichts bringen würden. Das wäre nur ein wilhelminischer Größenwahn mit umgekehrtem Vorzeichen. Wir sollten den deutschen Kolonialismus weiter intensiv aufarbeiten, weil er zu unserer Geschichte gehört.