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Warum sich Kultur nicht ideologisieren lässt

Vorausgeschickt: Kommt drauf an, welche Vorstellung von Kultur man hat, welche Begriffe man damit verbindet – etwa Ethnie, Nation, Volk usw. – und wie man all das jeweils auffasst. Die alte Unterscheidung, gar Entgegensetzung von Natur und Kultur ist seit Jahrzehnten passé und soll hier keine Beachtung finden. Auch die Entgegensetzung von Zivilisation und Kultur, die zuletzt, das heißt um 1900, charakteristisch für antiwestliche Haltungen, seien sie nun konservativ oder progressiv, gewesen ist, interessiert an dieser Stelle nicht. Heute sind es die romantischen Verklärungen von Multikulturalisten, rechten und linken Identitätspolitiken, die Kultur, wie immer man sie bestimmt, gern ideologisieren. Sei es, dass sie ihr fast schon den Status eines Rechtssubjekts zuweisen – wer einer bestimmten Kultur angehört, soll einer vom hier geltenden Recht unabhängigen Rechtssprechung unterliegen -, sei es, dass bestimmte Kulturen als solche staatlich geschützt und gefördert werden müssten.

Manchmal ist in solchen Fällen von „fluiden“ Identitäten die Rede. Das soll suggerieren, dass Veränderlichkeit, Ambiguität und Dynamik berücksichtigt werden. Doch weshalb spricht man dann überhaupt von Identität, will sie schützen und ihr ein eigenes Recht zugestehen? Eben. Wenn Identitäten weder sonderlich stabil noch uneingeschränkt greifbar sind, können sie auch keine Grundlage für gesonderte Rechts- und Schutzansprüche bilden. Nur ein universell konzipiertes Individuum, ganz gleich welcher Gruppenzugehörigkeit, kann Inhaber gleicher Menschen- und Bürgerrechte sein. https://www.sylke-kirschnick.de/2021/04/18/identitaetspolitik-contra-buergerrechte-und-universalismus/ Natürlich haben Individuen Identitäten. Einmal eine ‚bürokratische‘, durch die sie sich als ein und dieselbe Person ausweisen. Da an diese Identität Rechte, Ansprüche etc.pp (Arbeits- und Mietverträge, Wahlrecht etc.pp) geknüpft sind, ist sie im Lebensalltag wichtig, auch wenn sich kein Mensch darin erschöpft. Je nach Gruppenzugehörigkeit haben Individuen meist noch weitere Identitäten, die aber, da sie beständig Veränderungen unterliegen, immer nur vorläufig bestimmbar sind. Darüber hinaus gibt es natürlich ein Völkerrecht, aber das steht auf einem anderen Blatt, weil die Rechtssubjekte dann Staaten sind.

Klar ist, dass Vorstellungen von Kultur, die mit Begriffen von Volk oder Ethnie, Nation, Religion etc.pp operieren, immer bestimmte Kollektivsubjekte vor Augen haben. Klar ist auch, dass Kultur nie an einen einzelnen Menschen, an ein Individuum, gebunden sein kann, aber eben auch nur eingeschränkt an bestimmte Gruppen. Welcher Gruppe beispielsweise wollte man die Schrift- und Buchkultur zuschreiben? Welcher die Kaffee- oder Teekultur, welcher bestimmte Esskulturen? National- oder Volkskulturen sind eine recht späte, moderne Konzeption von Gruppenkulturen, die sich erst seit der Neuzeit ganz ausdrücklich gegen höfische und feudale Kulturen durchzusetzen begonnen hatten. Es waren diese modernen Kulturvorstellungen, die von ihren Akteuren im Laufe des 19. Jahrhunderts zu nationalistischen und völkischen Bewegungen ideologisiert und politisiert wurden.

Das Argument, Demokratie und Parlamentarismus seien ‚welsche‘ und in jedem Fall fremde Sitten und Gebräuche, die mit deutscher Geschichte und Kultur nicht vereinbar wären, war während der Weimarer Republik eine weit verbreitete Überzeugung rechter Identitätspolitik. Linke, die Demokratie und Parlamentarismus ebenfalls bekämpften, argumentierten anders, weil Volkskultur hier eine Klassenfrage war, eine Angelegenheit der sozial unterdrückten und benachteiligten Schichten. Der Internationalismus war einerseits transnational konzipiert, sofern er die Unterdrückten und Benachteiligten aller Länder zusammenfasste. Andererseits ging er davon aus, dass sich das Ziel der sozialen Befreiungsbewegung nur auf nationaler Ebene durchsetzen ließe und dies durch ein organisiertes ‚Unten‘, dessen Wortführer später die Parteifunktionäre wurden. Im Zeitalter der Massenbewegungen, -organisationen und -parteien spielte das Individuum schließlich nur noch als Kollektivwesen eine Rolle. Seine Zugehörigkeit zu einer ‚Rasse‘, einer ‚Klasse‘, einer ‚Nation‘, einem ‚Volk‘ etc.pp war entscheidend und sonst gar nichts. Rechte wie Linke nahmen sich in ihrer Verachtung des einzelnen Menschen nicht viel. Eine Positionierung hatte immer aus einer Gruppenzugehörigkeit heraus zu erfolgen, war durch sie determiniert und stand vorab fest.  Wenn heute linke Identitätspolitik erstmal abfragt, wie jemand ‚positioniert‘ ist, will sie nicht wissen, wie jemand denkt oder zu handeln beabsichtigt, sondern was er in ihren Augen IST. Sein Denken, Handeln, seine Entscheidungen ergeben sich dann aus ihrer Sicht ohnehin von selbst. Diese uralte Essentialisierung von Herkünften gleich welcher Art, ist der Grund ihres absehbaren Scheiterns. Denn Kultur und Kulturen sind solcher Betonköpfigkeit in Sachen Diversifizierung und Lebendigkeit inzwischen um Längen voraus. Glücklicherweise.