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Der abstoßende Charme des Totalitären

Hans Ulrich Gumbrecht ist wie Judith Butler Philologe und Philosoph. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass beide den Charakter des Politischen missverstehen. Gumbrechts Loblied auf die mehrfach preisgekrönte, im akademischen Milieu einflussreiche Professorin aus Berkeley liest sich so, als wären Zweifel an den Thesen Butlers angesichts dieser Erfolgsgeschichte unstatthaft und nur entweder auf das Unverständnis akademisch ungebildeter Menschen oder aber auf Neidreflexe weniger erfolgreicher Akademiker rückführbar. https://www.nzz.ch/feuilleton/judith-butler-ohne-sie-wuerden-wir-nicht-ueber-gender-reden-ld.1629921?mktcid=smch&mktcval=fbpost_2021-06-16&fbclid=IwAR1FiScTOXbbpnGTaICFOubWRq2mh3h0yFkYXxhtDhpOV-Kt_WLp09ikJZ0 Aber ist das so einfach?

Als ich 1990 das erste Mal die Stadt Rom besuchte, rief der Reiseführer, wann immer wir an McDonald oder großflächiger Marlboro-Reklame vorübergingen, hörbar ironisch aus: „Und hier eine besondere italienische Spezialität“. Alle lachten. (Ich esse im Übrigen, wenn auch selten, gern bei McDonald.) Als ich kurze Zeit später Judith Butlers „Gender Trouble“ las, hielt ich die Bemerkungen zum „Kulturimperialismus“ in den Nebensätzen ihres ersten akademischen Longsellers für eine Beschreibung unter anderem dieser weltweiten Verbreitung von McDonald-Filialen, weshalb ich sie nicht sonderlich ernst nahm. Erst sehr spät, für meinen Geschmack zu spät, merkte ich, dass in diesen Bemerkungen die Essenz von Butlers politischem Denken liegt.

„Gender Trouble“ und „Bodies that matter“ waren in meinen Augen ausgesprochen diskutable Schriften im akademischen Milieu, vor allem in der Auseinandersetzung mit anderen Konzepten der Geschlechterforschung. Dass sie letztere ersetzen würden, hätte ich mir nicht im Traum einfallen lassen, und halte das für eine ziemliche Katastrophe. Schon Butlers Positionen im Universalismus-Streit Anfang der Nullerjahre fand ich befremdlich. Ihre Auffassung, die Hamas gehöre zur globalen Linken war nicht nur verstiegen, sondern falsch. Ich hielt Butler noch zugute, dass sie sich – reines Wunschdenken meinerseits – verrannt hat und zu einem Thema Stellung bezog, über das sie herzlich wenig Bescheid weiß. Butler hörte sich immer öfter an wie eine Funktionärin im FDJ-Studienjahr, wo auch schon immer viel vom antiimperialistischen Kampf, von westlicher Hegemonie, von Rassismus, von Unterdrückern und Unterdrückten, von Palästinasolidarität und von bösen Zionisten die Rede gewesen ist. Butler beschwört mit ihrer politischen Philosophie einen neuen Totalitarismus herauf, wie er in den staatssozialistischen oder -kapitalistischen Diktaturen bis 1989 im Ostblock praktiziert wurde und heute in Nordkorea und in China sehr lebendig ist.

Bleiben wir beim in Rede stehenden NZZ-Beitrag Gumbrechts. Laut Artikel habe sich Butler mit Gender-Fragen befasst, weil ihr ein Sportlehrer mit dem Hinweis, dass sie ein „Mädchen“ sei, den Zutritt zur American Football-Mannschaft verweigert hatte. Wunderbar. Aber wieso verteidigt Butler dann islamistische Geschlechterstereotype, wonach ein Mädchen nicht die Schule besuchen dürfe, als Frau aus dem öffentlichen Leben verschwinden müsse, nur mit Kopftuch oder gar – wie in Afghanistan – ganzkörperverhüllt in Erscheinung treten darf? Weil das Einklagen von Mädchen- und Frauenrechten kulturimperialistische Überheblichkeit, ein aggressiv-hegemonialer Akt des Westens, dekadent und eine Form von Menschenrechtsdemagogie wäre? Wie schaut es mit der Rezeption von „Gender Trouble“ an der al-Azhar-Universität in Kairo, der Birzeit-Universität nördlich von Ramallah,  der Universität Teheran oder der Universität in Kabul aus? Und sind arabisch-islamische oder persische Geschlechtsidentitäten nicht dekonstruktionsbedürftig? Ach ja, ich vergaß: universelle Menschen- und Bürgerrechte gelten nicht uneingeschränkt, sondern nur für liberale Demokratien, weil man sich ja sonst des „Kulturimperialismus“ schuldig machen würde.

Butler habe so unangenehme Fragen wie die nach der Beziehung des deutschen Idealismus zum Nationalsozialismus gestellt. Das dürfte Ende der 1960er oder Anfang der 1970er Jahre gewesen sein und zu diesem Zeitpunkt hatte Karl Poppers Studie „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ schon ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Sie zu lesen dürfte für Butler noch immer lohnend sein und ihre Frage hinreichend beantwortet haben.

Über Butlers törichte Eingemeindung der islamistischen Terrororganisation Hamas in die globale Linke muss man nicht weiter diskutieren. Auch über die Fatah sollte man das nicht müssen, obwohl oder weil sie irrigerweise wie die PLO jahrzehntelang vom Ostblock unterstützt worden war. Es glaubt allerdings auch kein halbwegs ernst zu nehmender Wissenschaftler oder Intellektueller mehr , dass es möglich wäre, mit dem Schlagwort „sozialistisch“ noch hinreichend zwischen lechts und rinks zu unterscheiden. Butlers Unterstützung für die antisemitische Boykott-Kampagne BDS(Boycott, Desinvestment, Sanctions)  belegt, dass sie es mit Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit so genau nicht nimmt. Denn erstens ließe sich eine Rückkehr der etwa drei- oder vierfachen Anzahl einst geflüchteter arabischer Palästinenser ins heutige Israel kaum gewaltfrei durchsetzen und zweitens bliebe die Gerechtigkeit gegenüber den aus den arabischen Anreinerstaaten geflüchteten Juden nach Israel auf der Strecke. Drittens stehen Boykott-Aufrufe gegen Juden in einer ebenso unguten arabischen wie nationalsozialistischen Tradition, die nie ohne Gewalt, physischen und psychischen Druck auskam. Bezeichnend ist, dass Butler nie danach fragt, wie die Hamas mit der eigenen Bevölkerung umgeht, mit ihren menschlichen Bedürfnissen, ihren Rechten gegenüber ihrer „Regierung“, mit den Hilfsgeldern, die für ihr Leben im Gaza-Streifen bestimmt sind, mit Frauen- und Kinderrechten etc.pp Ebensowenig interessiert sie, wieso Fatah-Funktionäre ein recht auskömmliches, um nicht zu sagen luxuriöses Leben führen können, während die palästinensische Zivilbevölkerung weder Ausbildungschancen noch Arbeitsplätze erhält. Dass die Palästinenser weiterhin staatenlos sind, verschlechterte überdies ihre rechtliche Situation im heraufgezogenen „arabischen Winter“ und vor allem im syrischen Bürgerkrieg. Dass bei Butler Palästinenser immer die Guten und im Recht sind, Israelis immer die Bösen und im Unrecht, könnte selbst mit der Materie weniger vertrauten Wissenschaftlern langsam, aber sicher aufgefallen sein. Das hasserfüllte Israel-Bashing, das Butler seit zwei Jahrzehnten recht aggressiv betreibt, hat mit Gerechtigkeit wenig und mit Ethik gar nichts zu tun.

Last not least: Butlers Aufruf, die für das Funktionieren des Politischen und erst recht liberaler Demokratien so notwendige Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten zum Verschwinden zu bringen, zerstört nicht nur die Freiheit, sondern auch das politische Handeln. So richtig es ist, die Unterscheidung öffentlich/privat fallweise zu verschieben – sexualisierte Gewalt, Ehrgewalt, seelische und körperliche Misshandlungen im häuslichen Bereich ließen sich anders weder thematisieren noch ahnden -, so wichtig ist es, persönliche und private Angelegenheiten nicht mit öffentlichen und schon gar nicht mit staatlichen zu verwechseln, zu verklammern oder gleichzusetzen.

Das Recht, Rechte zu haben, ist inzwischen ein alter Hut und an eine Staatsangehörigkeit gebunden, weil sich andernfalls keine Institution oder Instanz ausmachen ließe, die legitimiert wäre, codifiziertes Recht durchzusetzen. Durch Moral oder Ethik lassen sich Rechtsinstitutionen aber nicht ersetzen, so wie Politik – in der es ja um ein Gemeinwesen, also um das Zusammenleben von Individuen geht, und zwar aller, nicht nur moralisch anspruchsvoller Individuen  – kein Lektürekurs und kein Rhetorikseminar sein kann.

Schade, eine kritische Auseinandersetzung mit Judith Butlers Thesen wäre angemessener und auch interessanter zu lesen gewesen.