Harlekinaden spielten infolge der Theaterreform des Leipziger Literaturprofessors Johann Christoph Gottsched von 1730 in Deutschland weder im Theater noch im Zirkus eine Rolle; Gottsched hatte alle harlekin- und hanswurstähnlichen Figuren von den deutschen Bühnen verbannt. Vergleichbare Theater wie in London und Paris hatte es in Deutschland bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhundert ohnehin nicht gegeben. Einzig die Wiener Volksbühnen boten mit Stücken von Ferdinand Jakob Raimund und Johann Nepomuk Nestroy Unterhaltungstheater auf hohem Niveau. Wien war auch lange vor Berlin, bereits um 1800 eine Stadt mit einem Zirkusleben, das vor allem Kunstreitertruppen prägten. In diesem Milieu wuchs Ernst Jakob Renz heran, der seine Elevenzeit als Kunstreiter und Akrobat u. a. bei den Kunstreiterprinzipalen Christoph de Bach und Rudolf Brilloff absolviert hatte. Über Renz und das Programm des gleichnamigen Zirkus sind wir durch Alwill Raeders Renz-Chronik zum 50-jährigen Bestehen des Unternehmens in der Saison 1896/97 sowie die Akten der Theaterpolizei im Berliner Landesarchiv unterrichtet. Den ersten Berliner Zirkus, ein Holzbau am Brandenburger Tor, bespielten noch in den 1820/30er Jahren Kunstreitergesellschaften. Auch wenn die einleitende Beschreibung einer solchen Vorstellung bei Alwill Raeder ein Kontrastbild entwirft, das Renz‘ Zirkusunternehmen in umso größerem Glanz erstrahlen lassen sollte, entspricht die dort entworfene Schäbigkeit und Provinzialität vermutlich den tatsächlichen Verhältnissen. Der Clown hieß verballhornt ‚Pojaz‘ (von ‚Bajazzo‘), das Orchester vertraten schief schmetternde Blechinstrumente und der Stallmeister gab den Conférencier, der die einzelnen Nummern ankündigte. Das waren Kunst- und Schulreiterstücke, akrobatische und gymnastische Darbietungen wie der Eiertanz „à la Mignon“– unschwer als Reminiszenz an Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ auszumachen –, die derben Witze des Pojaz-Clowns, das „Gesichtschneiden“ oder ‚Mimieren‘ als eigenständige Disziplin, das eine ganz vorzügliche Beherrschung der Gesichtsmuskulatur erforderte, und:
Den Beschluss der Vorstellung machte die auf dem Theater [d.h. der Bühne, S.K.] dargestellte Pantomime: ‚Kapitän Cook unter den Wilden auf Qhawi‘ [!]. Das ganze männliche Personal der Gesellschaft erschien als halbnackte Südsee-Insulaner mit Lendenschürze [!], Federschmuck und Keulen und führte um den berühmten Entdecker (Prinzipal Brilloff in der rothen [!] Admirals-Uniform mit Federhut und Degen) unter Keulenschwingen und wilden Geberden [!] einen schrecklichen Kriegstanz auf, der für den Engländer das Schlimmste befürchten liess. Doch lief die Sache noch friedlich ab. Der rothhaarige [!] Eindringling wurde heute noch nicht todtgeschlagen[!] und die Naturkinder führten in ihrer braunen Tricot-Nacktheit ihrer prächtigen Gestaltenaus ihren eigenen Leibern kunstvolle Menschen-Pyramiden auf, welche der Pantomime künstlerischen Gipfelpunkt bildeten.
Seit Astley und Hughes verfügte die Manege vieler Zirkusbauten neben einer Arena auch über eine Bühne. Das ausführliche Zitat aus Raeders Renz-Chronik belegt, wie am Ende des 19. Jahrhunderts über den exotistischen Fantasiehaushalt und seine öffentliche Inszenierung an dessen Anfang gedacht wurde. Überdeutlich tritt das Material, aus dem die ‚Träume‘ waren, in den Vordergrund: die Requisiten aus Keulen und Federn, die Kostümeder im buchstäblichen Sinne „Haute“-Couture (um 1900 stand dafür längst ein ausgesuchtes Sortiment an Cremes und Pasten zur Verfügung) auf der einen und der Uniform auf der anderen Seite, das theatrale Zeichenrepertoire aus Gesten, Gebärden, Tänzen und Geräuschen, kurzum das Zeichenprogramm von Wildheit und Fremde. Sporadisch hat es vermutlich auch bei Ernst Jakob Renz exotistische Pantomimen und Aufzüge in der Manege gegeben; Titel wie „Aly, Pascha von Janina“, „Das Fest zu Peking“ oder „Ein afrikanisches Fest der Königin von Abessinien“ aus Raeders Renz-Chronik legen dies nahe. Doch wissen wir nichts über ihren Inhalt. Anders als Frankreich und England war Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts weder Nationalstaat noch Kolonialmacht. Vom kurzen Kolonialabenteuer des preußischen Königs im 17. Jahrhundert, Forschungsexpeditionen und Reiseberichten seit den 1840er Jahren abgesehen, die Ernst Jakob Renz, der Analphabet gewesen sein soll, kaum zur Kenntnis genommen haben dürfte, gab es diesbezüglich wenig Manegentaugliches innerhalb seines Wahrnehmungshorizonts. Auch wenn Renz kurzzeitig einen oder zwei Menschen aus Asien durch die Manege laufen ließ, so hat es – wie bei allen in Berlin ansässigen Zirkusunternehmen – keine ethnographischen Schaustellungen, später nannte man sie Völkerschauen, in Berliner Zirkussen gegeben. Erstens war die Verknüpfung von Völkerschau und Zirkus in Deutschland eine Spezialität des Tierhändlers Carl Hagenbeck und später Sarrasanis. Zweitens stand für Völkerschauen in Berlin eine ganz andere, sehr gut funktionierende Infrastruktur aus Panoptiken, Vergnügungsparks und nicht zuletzt dem Zoologischen Garten bereit, so dass die Zirkusunternehmen weder die Gelegenheit noch den Bedarf hatten, sich auf diese Weise hervorzutun, um Zuschauer anzuziehen.
Die Kunstreitergesellschaften, deutschen und französischen Tourneezirkusse, die vor Ernst Jakob Renz die damalige Residenzhauptstadt Berlin bespielten, glänzten nicht durch aufwendig inszenierte Pantomimen. Man verzichtete hier aus pragmatischen Gründen auf Kulissen und große Dekorationen. Zum Programm gehörten Pantomimen wie „Mazeppa“, „Fra Diavolo“ oder der bereits zitierte „Kapitän Cook“. Neben komischen Szenen zu Pferd, die bereits die Clowns bei Astley präsentiert hatten, war dies das anfängliche Pantomimenrepertoire bei Ernst Jakob Renz. Später wurden die Kulissen und Dekorationen allerdings zunehmend aufwändiger, inklusive Schluchten, Grotten, Burgen. Dramaturgisch entwickelten sich die Szenarien weiter; es wurden neben Kämpfen und Jagden auch Massentänze, die geläufigen Balletteinlagen, inszeniert. Es gab Ritterspiele, Gefechtsszenen von aktuellen Kriegsschauplätzen, Räubergeschichten.
Großen Erfolg hatte Renz mit Pantomimenstoffen, die Sagen und Märchen entlehnt waren wie „Rübezahl“, „Schneewittchen“ und im Jahr 1873 „Aschenbrödel“. Letztere Pantomime wurde 1890 sogar neu einstudiert; es wirkten, auch das keine Neuerung, zahlreiche Kinder mit. Die Manegenadaption von Johann Wolfgang Goethes Versepos „Reineke Fuchs“ passte allein schon wegen der fabelartigen Darstellung menschlichen Verhaltens durch Tiergestalten ausgezeichnet zum Medium. Ferner fand der Studentenulk „Die lustigen Heidelberger“ beim Publikum viel Anklang. Die einzige in Raeders Renz-Chronik verzeichnete Harlekinade führte Renz 1874 unter dem Titel „Ein Erntefest“ auf. Die Pantomime bestand aus fünf Tableaus mit vielen Tanz- und Balletteinlagen; die Clowns Tom Belling und John Lee figurierten als Pierrot und Harlekin. Letzterer war 1884 titelgebend für die Pantomime „Harlekin à la Edison; oder Alles elektrisch“, wobei weder im einen noch im anderen Fall ausgesprochen klar ist, ob und inwiefern es sich um ‚klassische‘ Harlekinaden handelte. 1884 gab es immerhin neben einem Trupp Harlekine auch eine Columbine-Figur, aber im Mittelpunkt standen die elektrischen Lichteffekte, die „elektrische Dame“ und der „Schwertkampf mit elektrischen Waffen“. Ernst Jakob Renz starb im Jahr 1892. Sein Sohn Franz übernahm die Leitung des Unternehmens bis zu dessen Konkurs fünf Jahre später.
In die 1890er Jahre fällt die Aufführung zweier Pantomimen, die für das Genre zwar nicht untypisch, für die zirzensischen Produktionen des „alten Renz“, wie er ehrfürchtig-liebevoll von seinen Bewunderern genannt wurde, keineswegs charakteristisch gewesen sind. Sie tragen dem Generationswechsel und dem politischen wie gesellschaftlichen Wandel gleichermaßen Rechnung. Mit der Wasserpantomime „Helgoland“ wurde zumindest indirekt auf die deutsche Kolonialpolitik Bezug genommen. Das Sujet spielte – ob gewollt oder nicht, ist dabei unerheblich – auf den Helgoland-Sansibar-Vertrag zwischen dem wilhelminischen Kaiserreich und England vom Juli 1890 an, in dem Deutschland im Austausch für Helgoland gegenüber England auf sämtliche kolonialen Besitzansprüche auf Sansibar verzichtete. Jetzt sah man sich im Circus Renz die karge Nordseeinsel schön. Im Verlauf der 1880er Jahre war das deutsche Kaiserreich zur Kolonialmacht aufgestiegen. Voraussetzung dafür war die Reichsgründung in Anschluss an den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Fünfundzwanzig Jahre später ersuchte Franz Renz anlässlich des Jubiläums der Reichsgründung bei der Berliner Theaterpolizei um Erlaubnis, die Pantomime „1870/71“ aufführen zu dürfen. Erlegte einen handschriftlichen Entwurf des Szenarios bei. Das war zu dieser Zeit das übliche Verfahren, wollte ein Zirkusunternehmer eine neue Pantomime aufführen. Renz jr. erhielt die Genehmigung. Das „große militärische Ausstattungsstück“ inszenierte die Unterlegenheit der „erschöpften, ergrimmten und gebrochenen“ französischen Soldaten, die schließlich die Flucht ergreifen, und die Überlegenheit der deutschen Truppen; nach Gefechten der Kavallerie und der Artillerie erscheint „Germania“ und „verkündet glückstrahlend und stolz den Frieden!“. Bei einem Siegesfest am Brandenburger Tor, durch das die deutschen Truppen in die Stadt einziehen, erscheinen inmitten einer Schar Feiernder, unter denen sich viele Kinder befinden, als Höhepunkt „Bismarck & Moltke“ – man denke an die Siegessäule –inmitten von allegorischen Figuren, allen voran „Germania und Victoria“: „Deutschland, Deutschland über Alles !“ Das Bild der siegreich in Berlin durch das Brandenburger Tor einziehenden deutschen Soldaten findet sich in vielen Memoiren und Erinnerungen von Zeitgenossen, denn der reichsdeutsche Nationalismus war zu einem Massenphänomen geworden.