Gegenwärtig drehen sich Diskussionen im akademischen Milieu und in den öffentlich-rechtlichen Medien um den Postkolonialismus. Das ist sonderbar, denn als ich vor zwanzig Jahren in einem DFG-Forschungsprojekt zum deutschen Kolonialismus mitarbeitete, war die Frage nach Sinn und Unsinn postkolonialer Studien längst beantwortet. Aufgrund seiner Faktenresistenz, seiner dürftigen theoretischen Grundlage und seiner dafür um so ideologischeren, vor allem antiwestlichen Ausrichtung war und ist der Postkolonialismus für seriöses wissenschaftliches Arbeiten ungeeignet, unbrauchbar, ja geradezu kontraproduktiv. Er ist vor allem heute eine Form des politischen Aktivismus, die mit Erkenntnis und Wahrheitssuche nicht das geringste zu tun hat.
In der Bundesrepublik haben die Studienreform Mitte der Nullerjahre, der personelle Wechsel auf vielen Lehrstühlen und die Etablierung der maliziös als „Jammer- und Beschwerdestudien“ bezeichneten neuen Fächer wie Gender Studies, Cultural Studies oder Postcolonial Studies dazu geführt, dass das sprachlich uniformierte Geplauder über untersuchungswürdige Phänomene und Konflikte innerhalb unserer westlichen Gesellschaften zugenommen hat. Einen „postkolonialen turn“ in den Wissenschaften aber hat es glücklicherweise nie gegeben, auch wenn er im Wunschdenken von Aktivisten an Universitäten hierzulande leider seine Anker hat. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus hat völlig unabhängig und unbeeinflusst von postkolonialen Studien in den 1970er/80er Jahren begonnen. Zwei, drei Jahrzehnte später, im Jahr 2004, fand sie einen ersten Höhepunkt anlässlich des 100. Jahrestags des Genozids an den Herero und Nama. Es gab Buchpublikationen und ein breites mediales Echo. Postkoloniale Studien hatten daran keinen Anteil, folglich auch nicht die heutigen Aktivisten an den Universitäten, deren diesbezügliche Unkenntnis Bände spricht und sie für Forschungsarbeiten ungeeignet erscheinen lässt.
Woher kommt nun der Postkolonialismus und was hat es damit auf sich? 1978 erschien in den USA erstmals ein Buch, das zwar von einem an einer amerikanischen Eliteuniversität lehrenden Literaturprofessor verfasst worden war, aber sämtliche wissenschaftliche Standards unterlief, die für ernst zu nehmende akademische Arbeiten verbindlich sind. Der Verfasser von 1978 hieß Edward W. Said und sein Buch „Orientalismus“. Angefangen bei der guten wissenschaftlichen Praxis, relevante Fakten nicht zu unterschlagen, über Kriterien für Analysen – die nicht umsonst von willkürlichen Interpretationen und Spekulationen unterschieden sind – bis hin zur Enthaltsamkeit gegenüber politisch-ideologischen Vorlieben (die ein Wissenschaftler selbstverständlich genauso wie eine Religionszugehörigkeit haben darf, die aber beides Privatsache sind und in Forschungs- und Lehrtätigkeit an staatlichen Universitäten nichts zu suchen haben), verstieß „Orientalismus“ gegen so ziemlich jede akademische Gepflogenheit. Das stellten zahlreiche Wissenschaftler dann auch recht rasch fest, was „Orientalismus“ nicht daran hinderte zum Gründungstext des Postkolonialismus zu avancieren.
Said wollte eine angeblich von europäischen Orientalisten konstruierte Entgegensetzung von Europa und dem Orient dekonstruieren. Belegen konnte er diese fantasierte Opposition nicht, weshalb sie eine bloße Unterstellung und falsche Prämisse geblieben ist. Said widerlegte – in anderen Worten – mit großem Aplomb seine eigene Fantasie, die er beständig europäischen Orientalisten unterschob, die er größtenteils gar nicht gelesen hatte. Mit Frankreich und England im 19. Jahrhundert und bis 1945 und den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg machte Said imperialistische Großmächte aus, die nicht zufällig westlich sind und eine koloniale Vergangenheit hatten. Der Westen, so muss man aus Saids Darstellung schließen, ist erstens unisono und vor allem in der Moderne imperialistisch, kolonialistisch und hegemonial, also verwerflich. Zweitens fallen Europa und der Westen zusammen und weil sich das politisch und rechtlich in den 1970er Jahren so nicht ergab, wählte Said das Feld der Kultur, um die angebliche westliche Hegemonie bis ins Altertum, die hellenistische und römische Antike verlängern zu können. Historisch und kulturgeschichtlich ist das natürlich Unsinn. Ideologisch passt das wiederum glänzend zusammen: Das alte römische Imperium und der moderne Westen als „kulturimperialistische“ Hegemonialmächte. Diese absurde Formel vom Kulturimperialismus hat Said in seinem zweiten Werk „Kultur und Imperialismus“ von 1993 strapaziert.
Nun besteht kein Zweifel daran, dass Frankreich und Großbritannien besonders in der Moderne Kolonialmächte gewesen sind. Dies aber vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, in Indien und Teilen Asiens. Araber waren davon ausschließlich in Nordafrika betroffen: in Ägypten, Algerien, Marokko etc. Also in Regionen, die islamische Araber zuvor erobert und kolonialisiert hatten. Arabischer Imperialismus und Kolonialismus kommt aber bei Said so wenig zur Sprache wie der Imperialismus und Kolonialismus des zaristischen Russlands, der späteren Sowjetunion, der Osmanen, die vom 16. bis zum 20. Jahrhundert weite Teile der östlichen und südlichen Mittelmehrregion sowie Teile Europas, vor allem die Balkanregion, erobert und kolonisiert hatten. Das Osmanische Reich, das nie europäische Kolonie gewesen ist, war im Gegenteil seinerseits Imperial- und Kolonialmacht und dies bis ins 20. Jahrhundert hinein. Es gab auch nicht nur einen transatlantischen, sondern auch einen bis ebenfalls weit ins 20. Jahrhundert reichenden, florierenden und ausgesprochen lukrativen arabischen Sklavenhandel. Kein Wort davon bei Said.
Es wundert denn auch nicht, das Said zentrale historische Ereignisse ausspart: Den Ersten und den Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Es fehlen der Genozid an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 durch die Jungtürken, die Kollaboration und Kooperation der Araber in der Levante mit dem Briten gegen die Türken und Deutschen im Ersten Weltkrieg, mit dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland gegen die Briten im Zweiten Weltkrieg. Das Völkerbundmandat, das Franzosen und Briten nach dem Ersten Weltkrieg und teilweise bis 1947 in der Levante innehatten war kein Kolonialismus, sondern ein Besatzerstatus mit dem Ziel, nationalstaatliche Strukturen in der Region zu etablieren. (Wie die Alliierten nach 1945 bis 1989.) Kurzum: Araber sind in toto nie Spielball europäischer Imperial- und Hegemonialmächte gewesen, sondern immer auch Verursacher, Akteure, Teilnehmer und Teilhaber von und an globalen Eroberungen, Kriegen und Konflikten. Dass sich einige arabische Staaten wie Ägypten oder Syrien nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem die PLO, der Edward Said sehr nahe stand, zeitweilig der UdSSR verschrieben, geschah aktiv und aus eigenem Macht- und Herrschaftskalkül, weder auf Druck noch unter Zwang.
Edward Said hat sich gern als Wortführer der sich seit Jassir Arafat irrtümlich als Volk, also ethnisch definierenden Araber auf dem Gebiet der früheren osmanischen Provinz Palästina geriert. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat Arafat und die PLO dazu inspiriert, sich ab Mitte der 1970er Jahre als palästinensisches Volk zu deklarieren. Historisch und kulturgeschichtlich gibt es keinen Beleg für die Existenz einer solchen Entität. Aber das politisch-ideologische Ziel, den Staat Israel zu deligitimieren, erklärt, weshalb ein Märchenbuch namens „Orientalismus“ geschrieben wurde, in dem Araber unterworfene Opfer und westliche Staaten dominierende Täter sind. Die Legende von der Dominanzkultur, die noch immer durch Teile der akademischen Welt geistert, obwohl sie keinerlei Faktizität besitzt, geht im Übrigen auf den geschickten Märchenerzähler Edward W. Said zurück. Es wird Zeit, dass sich die Universitäten wieder auf ihre Kerndisziplin und -kompetenz besinnen und zur Wissenschaft zurückkehren.