Cinzia Sciuto, promovierte Philosophin, Kennerin und Kritikerin von Identitätspolitik, hat mit ihrem Buch „Die Fallen des Multikulturalismus, Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft“ eine wichtige und hochaktuelle Studie verfasst. Zu Recht nennt sie den Multikulturalismus eine Ideologie. Denn ihm fehlt, was wissenschaftliche und zivilgesellschaftlich praktikable Ansätze auszeichnet: eine durchdachte Theorie und valide empirische Befunde. Auf beide Defizite weist Sciuto unablässig hin, indem sie die unübersehbaren Aporien von Identitätspolitik analysiert und den Finger in die offene Wunde empirisch feststellbarer Folgen legt: Von den Scharia-Gerichten in Großbritannien über den Angriff auf Meinungsfreiheit und Laizität in Frankreich bis hin zur aktuellen Abtreibungsdebatte in Polen und den Privilegien, die die Kirchen in Italien und anderen westlichen Ländern noch immer genießen. Sciuto wendet sich gegen Sonderrechte für ethnische, kulturelle und religiöse Gemeinschaften jeglicher Art, sei es die Katholische Kirche, seien es Pfingstkirchen, seien es die nordamerikanischen Amish oder seien es Muslime.
Religiöse Identitätspolitik versus Laizität
Gegen religiöse Identitätspolitik wirft Sciuto das Gewicht einer konsequenten Laizität in die Waagschale. Für die interessierte Öffentlichkeit, aber auch für hartleibige Ignoranten verdeutlicht sie noch einmal, dass und warum Laizität die einzelnen Religionen schützt, aber zur Privatsache erklärt. Einzig die strikte Trennung von Staat und Religion ermöglicht Kindern eine Erziehung und Bildung, die sie befähigt, im Erwachsenenalter als autonome und freie Bürger eigene Entscheidungen treffen zu können. Die Frage nach der Freiwilligkeit von Mädchen und jungen Frauen in westlichen Gesellschaften, das islamische Kopftuch zu tragen, ist dafür ein gutes Beispiel: Wenn ich fürchten muss, meine Familie und mein soziales Umfeld zu verlieren, als unanständige Frau und Freiwild für sexualisierte Gewalt zu gelten, werde ich das Kopftuch tragen, ohne das auf mich direkter Zwang ausgeübt wurde und ohne dass ich zugleich eine freie Entscheidung getroffen habe, weil der Konformitätsdruck hoch ist und die Aussicht auf den Verlust meines Herkunftsmilieus mir keine Wahl lässt, die das Attribut autonom verdient. Das legt Sciuto luzide dar.
Wenn wiederum im Westen sozialisierte und ausgebildete jüngere Frauen wie beispielsweise Kübra Gümüsay das Kopftuch selbstbewusst tragen, wählen sie ein Element ihrer Herkunft zum alle anderen beherrschenden aus – womit sie sich selber reduzieren – und treffen damit eine Aussage im Sinne des politischen Islam. Die Unterscheidung zwischen dem Islam als einer vielgestaltigen Religion, die verschieden gelebt werden kann, und einer Ideologie, die Einfluss auf westliche Gesellschaften nehmen will, um diese nach ihren Maßstäben umzugestalten, stellt Sciuto allerdings erst spät im Buch klar. Das tut ihrer dichten und profunden Argumentation keinen Abbruch.
Individualismus versus Individuum
Das oft beschworene Stereotyp vom marktradikalen Individualist, der sich egomanisch, empathielos und unsolidarisch auf Kosten anderer durchsetzt, sein menschliches Umfeld missachtet und ausbeutet, entstammt modernisierungsfeindlichen Gemeinschaftsideologien. Es steht laut Sciuto quer zur Vorstellung vom einzelnen Menschen als Inhaber unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte. Ihr Individuum ist ein Rechtssubjekt, das als Staatsbürger politisch verantwortlich handeln soll. Dieses Individuum besitzt nicht nur eine, sondern verschiedene Identitäten, die freilich erstens wandelbar, weil dynamisch und widersprüchlich sind und die zweitens aus vielen Bausteinen bestehen, von denen keiner Vorrang beanspruchen kann. Sciutos Individuum steht mit seiner Umgebung im ständigen Austausch, wird von ihr aber weder determiniert noch definiert, ist immer unvollendet und unabgeschlossen. Es ist dieses Individuum, das als einzelner Mensch Träger von Grund- und Menschenrechten ist und deshalb Anspruch auf Anerkennung hat. Als Mensch, wie Sciuto wiederholt betont, und gerade nicht aufgrund besonderer Merkmale oder Gruppenzugehörigkeiten wie Herkunft, Hautfarbe, Religion, Ethnie oder Kultur.
Auch Migranten sind, sofern sie die Staatsangehörigkeit des Landes erwerben, in das sie eingewandert sind, als Individuen und eben nicht als Gruppen- oder Familienmitglieder Träger von Bürger- und Freiheitsrechten. Andernfalls unterliegen sie dem Ausländerrecht, sind mithin keineswegs völlig rechtlos, können aber ausgewiesen werden, falls sie weder einen Anspruch auf Aufenthalt haben oder aber die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Aufnahmelandes angreifen. Das ist in klassischen Einwanderungsländern, zu denen die europäischen Nationalstaaten nicht zählen, auch nicht anders. Da Menschenrechte nur über eine Staatsangehörigkeit einklagbar sind, greift diejenige des Herkunftslandes von Migranten.
Gruppenrechte und Rechtspluralismus versus universelle Bürger- und Menschenrechte
Welche Folgen es hat, wenn für ethnische, religiöse oder kulturelle Gruppen innerhalb westlicher Gesellschaften konkurrierende Rechtssysteme eingeführt werden, stellt Sciuto in wünschenswerter Klarheit dar. Scharia-Gerichte setzen beispielsweise die Bürgerrechte von Frauen und Kindern außer Kraft, denn sie hebeln nicht nur die erkämpfte Gleichberechtigung von Geschlechtern aus, sondern verhindern, dass Kinder ihre Persönlichkeiten frei entfalten, um als erwachsene Individuen unabhängig von ihrem Herkunftsmilieu leben zu können. Es sind dann auch nie Minderheiten in toto, die eine solche Paralleljustiz einfordern, sondern Sciuto zufolge demokratisch nicht legitimierte Führungspersonen, Verbände oder Vereine, die sich eine Repräsentationsfunktion anmaßen und zu allem Überfluss auch noch festlegen wollen, wer „authentisch“ ist und wer nicht. Nach innen üben religiöse, ethnische oder kulturelle Gruppen nicht selten Druck und Zwang auf ihre Mitglieder aus, während sie Feindseligkeiten nach außen schüren.
Aus dieser Essentialisierung und ihrem Minderheitenstatus leiten solche Gemeinschaften ihre Forderung nach einer Bevorzugung gegenüber einer meist als homogen vorgestellten „Mehrheitsgesellschaft“ ab, deren unterstellte Vorherrschaft es zu brechen gelte. Um das Durchsetzen kollektiver Bevorzugung handelt es sich deshalb, weil die Mitglieder dieser Gruppen als Individuen die gleichen Rechte wie alle anderen auch besitzen. Und aus dem Minderheitenstatus als solchem ergeben sich weder eine rechtliche Benachteiligung noch automatisch Nachteile, die der Staat auszugleichen verpflichtet wäre. (Eine Ausnahme bilden Schwerbeschädigte.) Wenn etwa Migrantenvereine wie „Neue deutsche Medienmacher“ oder „Deutschplus“ kollektive Sonderrechte wie die flächendeckende Repräsentation von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in staatlichen Institutionen, Parteien und der Regierung fordern, ist das verfassungsfeindlich, weil es das Individuum als Rechtssubjekt zugunsten partikularer Interessengruppen abserviert. Die Folge wären kollektive Verteilungskämpfe um Ressourcen entlang religiöser, ethnischer und kultureller Kriterien, also genau das, womit das deutsche Grundgesetz im Jahr 1949 aufräumte.
Bilingualität etwa sei grundsätzlich begrüßenswert, so Sciuto, sollte aber weder die allen Kindern gemeinsame und in die Gesellschaft integrierende Amtssprache des jeweiligen Nationalstaats nachordnen. Selbst Mutter schulpflichtiger Kinder, besteht Sciuto darauf, dass – in diesem Fall – Deutsch die in der Schule von allen beherrschte und gesprochene Sprache ist. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. der Schweiz) wird das in allen Nationalstaaten so gehandhabt, um in öffentlichen Schulen kein Kind auszuschließen.
Sciuto führt Klassiker wie Immanuel Kant an, liberale Philosophen wie Hannah Arendt, Karl Popper oder John Rawls, neuere Gesellschaftstheoretiker wie Amartya Sen oder Seyla Benhabib, hat aber auch die Werke der Multikulturalisten sehr genau gelesen, allen voran das von Charles Taylor, der das Multikulturalismus-Konzept einst entwickelt hatte. Der Streit zwischen im Ergebnis reaktionären Kommunitaristen – unsere Rede von ‚communities‘ kommt daher – und Universalisten spaltet seit den 1980er Jahren die westliche Linke. Selbst Migrantin, führt Sciuto darüber hinaus eine beeindruckende Fülle empirischer Berichte unter anderem von Amin Maalouf, Kenan Malik, Irshad Manji oder Fatima Mernissi an. Das Buch beschließt ein Plädoyer für den Universalismus, für individuell einklagbare Bürger- und Menschenrechte, gegen die kollektivistischen Anfechtungen religiöser, etnischer und kultureller Gruppen. Man wünscht sich Cinzia Sciutos Buch auf die Schreibtische möglichst vieler Journalisten vor allem öffentlich-rechtlicher Medien.