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Wozu noch Bücher? Warum das Lesen von Büchern für Innovationen unverzichtbar ist

Orale Kulturen sind wenig dynamisch. In Europa hat sich das Lesen gedruckter Schrift als massenwirksame Kulturtechnik erst mit der allgemeinen Schulpflicht im 19. Und 20. Jahrhundert durchgesetzt. Wenig verwunderlich ist, dass die in relativ kurzen Abständen erfolgenden, fast sprunghaft erscheinenden Modernisierungsschübe und die extreme Beschleunigung durch die Neuen Medien ausgerechnet in Schriftkulturen ihren Anfang nahmen. Nur sie schulen und trainieren in der Breite ein Abstraktionsvermögen, das fürs Denken in Zusammenhängen notwendig ist. Aber was ist so besonders am Lesen in einem gedruckten Buch?

Erstens ist es eine einsame Praxis, denn zum Lesen muss man sich allein in eine abstrakte Zeichenwelt begeben. Lesen erfordert Konzentration. Einen Film oder ein Hörbuch kann man auch gemeinsam mit vielen anderen ansehen oder anhören. Zweitens muss ich beim Lesen anders als beim Film eine Übersetzungsleistung erbringen und Sprachzeichen in Bilder, Gerüche, Töne übersetzen und all diese Vorstellungen vor dem inneren Auge oder Ohr selber produzieren. Anders als beim Hörbuch muss ich auch die Lautgestaltung, die Intonation, die Betonung der geschriebenen Worte vornehmen und so eine Ordnung erzeugen, die Sinn produziert. Drittens ist verstehendes Lesen – das Erfassen von Sinnzusammenhängen – Voraussetzung für das Herstellen tragfähiger Bezüge. Es gibt sicher weitere Gründe, weshalb das Lesen von Büchern in unserer heutigen Medienwelt so unverzichtbar ist, hier aber soll das Aufzählen sein Bewenden haben.

Fakt ist, das eine rein orale Kultur nicht unsere Zukunft sein wird, auch wenn YouTube, slam poetry – aktualisierter Dada -, Deutsch Rap – Sprechgesang ist nicht nur seit Jahrtausenden fester Bestandteil der Liturgien, sondern spätestens seit Arnold Schönberg in der Hochkultur zu Hause, also nicht erst und nicht nur im und seit dem Blues bekannt und beliebt – die Jugendkultur prägen. Das Lesen im Netz ist ein anderes als im Buch so wie das Schreiben für das Netz naturgemäß seine Eigenheiten hat. Dass YouTube-Erklärvideos Schulbücher, ja den Schulunterricht ersetzen werden, ist eine steile These, die heute Morgen die Berliner Migrationsforscherin Naika Foroutan aufgestellt hat. Verbunden mit der düsteren Vision , dass Bücher längst ein Auslaufmodell sind und bald nur noch als folkloristische Überbleibsel einer längst überlebten Kultur in unseren Wohnungen rumstehen werden.

Nun hat dieser Abgesang auf das Buch als Medium nicht nur eine lange Tradition, ohne dass diese prophezeite Katastrophe je eingetreten ist, er ist auch fester Bestandteil postkolonialer Theorien und dort Ausdruck des gleichen antiwestlichen Furors wie der Hass auf die Aufklärung, die Verachtung von Demokratie und das Ressentiment gegen den Universalismus. Naika Foroutan bespielt diese Bühnen seit ihrer Doktorarbeit, weshalb es wenig überrascht, dass sie jetzt zu solchen wenig stichhaltigen Schnell- und Kurzschlüssen über die vermeintlich verlorene Zukunft der Schriftkultur und vor allem des Buches kommt.

So wichtig und richtig die Digitalisierung auch ist, sie wird das analoge Kulturleben und das Bücherlesen nicht verabschieden, sondern bestenfalls ergänzen. Und der Grund dafür ist recht einfach: Computer können rechnen, aber weder denken noch handeln. Das ist eine Einsicht, die bereits Hannah Arendt in ihrem Vortrag über „Freiheit und Politik“ von 1958 ausführlich dargelegt hat. Auch die seit einigen Jahren vielbeschworene Künstliche Intelligenz wird Menschen nicht ersetzen, auch wenn unsere Arbeitswelt bald erheblich durch sie umgestaltet sein wird. Als Migrationsforscherin sollte ja gerade Naika Foroutan darüber nachdenken, welche Konsequenzen das für westliche Einwanderungsländer und für Arbeitsmigranten haben wird. Das alte Modell der Neuen Welt, die massenhaft unausgebildete Arbeitskräfte absorbieren, mit ihnen und durch sie wachsen konnte, funktioniert schon jetzt nicht mehr. Überdies werden die meisten solcher Arbeitsplätze schon bald automatisiert sein und von Robotern übernommen werden. Einwanderung in westliche Länder wird bald nur noch ausgebildeten Fachkräften möglich sein. Und eine solche Fachausbildung wird sich wohl kaum auf der Grundlage von YouTube, Wortkunst wie slam poetry und Rap erwerben lassen.

Einer meiner Lieblingsfilme ist „Fahrenheit 451“ (1966) von Francois Truffaut. Warum mich Naika Foroutan heute Morgen an den Captain erinnerte, hat vielleicht etwas mit ihrer Vorliebe für das totalitäre Mullah-Regime zu tun, das die Iraner hoffentlich bald überwinden. Wahrscheinlich meinte sie mit ihrer Vision von der Rückkehr zu oralen Kulturen die Welt der Buchmenschen in „Fahrenheit 451“, die sich gegenseitig die Buchklassiker rezitieren. Ab und an mal bei denen vorbeizuschauen, lohnt sich gewiss auch für kulturgeschichtlich unterversorgte Migrationsforscherinnen.