Heute Morgen wurde im Deutschlandfunk eine Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Genderforschung zum Thema linker Identitätspolitik interviewt. Kein Zufall, dass sie ganz im gegenwärtig an einigen Universitäten üblich gewordenen postkolonialen Tenor sprach. Von Argumentation, die diesen Namen verdient, konnte keine Rede sein. Sie tat, was sie Thierse vorwarf: Sachverhalte behaupten, die empirisch nicht erwiesen sind. Dass alle, die ihr nicht folgen mögen, verunsichert sind, dass irgendwer hierzulande die Deutungshoheit über Kulturelles besitzt, dass es eine schwarze Literaturwissenschaftlerin aufgrund ihrer Hautfarbe schwerer hat als eine weiße. Alles als Tatsachenbehauptungen formulierte Vermutungen. Nun würde ich gar nicht bestreiten wollen, dass Kinder aus nicht akademischen Elternhäusern vielleicht mehr tun müssen als andere, um das Gleiche zu erreichen, aber erstens kann das kein Grund dafür sein, sie zu bevorzugen, und zweitens müssen schwarze oder nichtweiße Wissenschaftler nicht unbedingt nichtakademische Elternhäuser haben. Die Eltern von Kamala Harris, der amerikanischen Vizepräsidentin, sind Akademiker und dies an Eliteuniversitäten. Harris hatte es sicher leichter als ein nichtweißes UND ein weißes Kind, das als erstes in der Familie einen Universitätsabschluss erworben hat. Entlang der Hautfarbe Privilegien oder Lebenschancen zu verteilen, ist linke Identitätspolitik, die erstens in die Irre führt und zweitens brandgefährlich ist, weil sie Verteilungskämpfe entlang essentialistischer Kategorien zu regeln versucht und weil sie zweitens Feindseligkeiten schürt.
Anders als rechte Identitätspolitik führt linke nicht zu Morden wie seinerzeit in Eberswalde, Mölln, Solingen, zum NSU oder aktuell in Kassel, Erfurt oder Hanau. Deshalb ist sie schlimmer. Linke Identitätspolitik ist aber nicht besser: Morde, Ehrenmorde, Körperverletzungen wie weibliche Genitalverstümmelung und Vergewaltigungen gibt es immerhin auch von Islamisten oder seitens patriarchal geprägter Einwanderer. Linke tun sich gern mal schwer, das zu benennen, angemessen zu verurteilen und zu bekämpfen. Kein Linker würde sich vor die Mafia stellen. Das öffentliche Thematisieren von Clan-Kriminalität aber soll linker Identitätspolitik zufolge rassistisch sein und das Problematisieren des politischen Islam „antimuslimischer Rassismus“ oder „islamophob“? Das Leben von Hatun Sürücü war genauso wertvoll wie das einer biodeutschen Frau und ihre Mörder sind genauso schlimm wie der Mörder von Walter Lübcke. Und, liebe Genossin Özoguz, es ist schnurzpiepegal, wie man die Mohammed-Karikaturen findet – die meisten meiner Freunde und Bekannten finden sie entweder geschmacklos oder interessieren sich nicht die Bohne für ihren mangelnden ästhetischen Wert -, für das Zeichnen oder Zeigen solcher (!) Karikaturen sollte kein Mensch auf dieser Welt sein Leben riskieren oder gar lassen müssen. Umgekehrt ist noch nie wer hingerichtet worden, der diese Zeichnungen abgelehnt hat. In Frankreich spricht man nicht umsonst von Islamo-Gauchisme. Das ist linksfaschistische Identitätspolitik und ich wäre sehr froh, wenn man sie hier in Deutschland gar nicht erst einführt, geschweige denn stärkt.
Und natürlich gebrauchte die identitätspolitisch gepolte Literaturwissenschaftlerin heute Morgen im Deutschlandfunk den Macht-Begriff: Weil Angehörige ethnisch-kultureller Minderheiten und Frauen angeblich in westlichen Ländern keine Macht hätten, könnten sie auch keine Zensur ausüben, nicht rassistisch sein oder andere Grausamkeiten begehen etc.pp Das ist Unfug und die Vorstellung von Macht, die solchen Aussagen zugrunde liegt, ist theoretisch nicht sonderlich ambitioniert, weil sie erstens Macht und Herrschaft nicht voneinander trennt, weil sie zweitens beides unterkomplex entlang von Hautfarbe und Geschlecht anordnet und weil sie drittens ein völlig überholtes, neomarxistisches Paradigma von Unterdrücker/Unterdrückte behauptet, das keiner Empirie mehr standhält; auch das antiimperialistische Paradigma, das in den sechziger Jahren an westlichen Universitäten und im Ostblock populär war und aus dem sich postkoloniale „Theorie“ speiste, mag hier wie der letzte Schrei an Theorie-Moden erscheinen, ist aber tatsächlich ein uralter Hut aus der Mottenkiste der kommunistischen Imperialismusdoktrin, die bezeichnenderweise immer über den sowjetischen und arabischen Kolonialismus und Imperialismus hinwegsah. (hier ein paar abweichende Macht-Definitionen und -theorien: https://de.wikipedia.org/wiki/Macht). Im Übrigen haben auch die postkolonialen „Theoretiker“ vom Kolonialismus profitiert, weil er die Voraussetzung ihrer Einwanderung schuf.
In unseren heutigen liberalen Demokratien haben wir rechtliche und politische Verfahren, wie wir Regeln ändern oder aufstellen. „Kulturelle Aushandlungsprozesse“ – eine Lieblingsformel postkolonialer „Theoretiker“ – sind dabei völlig irrelevant. Nationalistische oder folkloristische Kultur-Begriffe spielen überhaupt keine Rolle mehr, so wenig wie völkisch-biologistische Vorstellungen von einem Staatsvolk. Allerdings kursieren solche überlebten Kultur-, Volks- und Nationen-Begriffe heute unter Einwanderern ebenso wie unter Authochtonen. Heutzutage verfügt niemand mehr einseitig über Definitionsmacht, auch kein „alter weißer Mann“. Selbst die Tech-Unternehmen geraten zunehmend unter Beschuss – u. a. durch die EU-Wettbewerbskommissarin, die liberale Margrethe Vestager.
Und es steht ja wohl außer Streit, dass „junge, nichtweiße Frauen“ weder bessere Menschen sind noch in der Lage sein dürften, aufgrund ihrer „Identität“ immer die besseren Entscheidungen für alle zu treffen oder die klügeren Argumente vorzutragen. Die linke Propagandaformel vom „alten weißen Mann“ ist genauso feindselig und rassistisch wie der Hass auf einen „alten schwarzen Mann“, auf eine „alte weiße Frau“ oder eine „junge schwarze Frau“, ganz einfach, weil kein Mensch darüber entscheiden kann, wo, wann und als was er oder sie geboren wird und welcher Gruppe er via Geburt angehört.
Zur kulturellen Aneignung: Die Professorin, die heute im Deutschlandfunk kräftig und mächtig die Fahne linker Identitätspolitik schwang, ist Germanistin. Schreibt sie in Runen? Glaubt sie an Odin? Denkt sie in Zaubersprüchen? Nein, selbstverständlich nutzt sie die heute gebräuchliche Schriftsprache, glaubt vielleicht an gar keinen Gott und ihre Qualifikationsarbeiten hat sie höchstwahrscheinlich nach aktuell geltenden Normen abgefasst. Das sind alles kulturelle Aneignungen. Einige regionale Akteure haben das früher gemacht, andere später. In den 1980er Jahren wandte die Politologin Judith Shklar unter anderem gegen Michel Foucaults antiwestlichen Feldzug ein, dass die Demokratie ja nun einmal irgendwo auf der Welt entstanden sein muss und dass dieser Entstehungsort nicht entscheidend sein kann für die Beurteilung und Bewertung ihrer Qualität. Demokratisierung als westlichen Kulturimperialismus zu verunglimpfen, ist genauso völkisch, nationalistisch und rassistisch wie die Vorstellung genuin „schwarzer“ oder „weißer“ Kulturen. Hätte es in Syrien oder dem Irak stabile liberale Demokratien gegeben, hätten nicht Millionen Syrer und Iraker sterben oder fliehen müssen. (Um nicht mißverstanden zu werden: Ich bin für die konsequente Rückgabe aller während der Kolonialzeit geraubten Kulturgüter. Ob das Ischtar-Tor, das kein koloniales Raubgut gewesen ist und im Berliner Pergamonmuseum zu bestaunen ist, den zerstörerischen Furor des Islamischen Staats überlebt hätte, stünde es im Irak, ist fraglich.) Die heutigen afrikanischen Nationalstaaten in der Subsahara-Region sind alle unterschiedlich, doch ihre Bevölkerungen werden erst dann besser leben, wenn es gelingt, demokratische Strukturen durchzusetzen und zu festigen, so dass die Reichtümer, über die diese Regionen verfügen möglichst vielen ihrer Einwohner zugutekommen und nicht mehr marodierende Milizen oder islamistische Terrorgruppen unter Führung schwarzer Männer entscheiden, wer das Sagen in diesen Ländern hat. Um Geburtenkontrolle, den Verzicht auf weibliche Genitalbeschneidung oder magisches Denken werden afrikanische Bevölkerungen nicht herumkommen. Das war in Europa nicht anders.
Natürlich gibt es in der Bundesrepublik Rassismus gegen schwarze Menschen, über den wir nicht mehr debattieren, sondern den wir abschaffen müssen. Rassistische Pöbeleien, egal, ob im Internett oder im öffentlichen Raum müssen, sofern das möglich ist, juristisch verfolgt werden. In jedem Fall muss ihnen ein so gewaltiger Einspruch auf den Fuß folgen, dass es sich nicht mehr lohnt, mit rassistischen Sprüchen zu punkten. Deshalb ist es um so wichtiger, dass Wortmeldungen wie etwa die jüngst von Wolfgang Thierse nicht von Journalisten im Interesse moralistischer Selbstüberhöhung ganz gezielt fehlinterpretiert und verzerrt werden. Eines wird jedoch erst dann völlig aus der Welt sein, wenn wir uns immer mehr vermischt haben werden: Das mit Sicherheit unangenehme Gefühl schwarzer Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe in Europa aufzufallen und nicht in der Masse verschwinden zu können. Das geht „weißen Europäern“ außerhalb Europas oft nicht anders. Was es dort allerdings kaum in vergleichbarem Ausmaß geben dürfte, sind solche Mordanschläge wie wir sie in Deutschland gegenüber Angehörigen von Minderheiten erlebt haben. Die Verurteilung rechtsextremistischer Morde und Übergriffe darf sich aber nicht mit der stillschweigenden Duldung anderer Grausamkeiten hierzulande paaren, nur weil sie nicht von Authochtonen verübt wurden.