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Rechte Identitätspolitik ist schlimmer, aber linke nicht besser

Jüngst hat Wolfgang Thierse in einem Gastbeitrag für die „FAZ“ https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-17209407.html  die aktuelle linke Identitätspolitik kritisiert. Zu Recht und dankenswerterweise! Identitätspolitik ist antidemokratisch, weil sie das, wovon wir laut Grundgesetz absehen, zum Ausgangspunkt und Ziel politischen Handelns macht: die Herkunft, das Geschlecht, die Religion, die sexuelle Orientierung etc.pp Das muss schiefgehen und unser Zusammenleben zerstören, weil sich ein solches politisches Handeln erstens an Gruppen und nicht am Individuum orientiert, das aber die zentrale Größe für die Grund- und Freiheitsrechte ist. Und weil es zweitens Merkmale wie ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten zum Schwerpunkt politischen Handelns macht. Das ist nur gerechtfertigt, wenn es um die vorenthaltene Gleichberechtigung geht. Das war hierzulande bei der Frauen- und Homosexuellenbewegung der 1970er Jahre der Fall, betraf unter anderem die Abtreibung, das Abschließen eines Arbeitsvertrages, Vergewaltigung in der Ehe, die Eheschließung oder das Adoptionsrecht. In den Vereinigten Staaten erkämpfte die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren die rechtliche Gleichstellung  Schwarzer mit Weißen. Doch Thierses Artikel handelt von der Bundesrepublik, wo alle Staatsbürger gleich welcher Herkunft, welchen Geschlechts etc.pp inzwischen die gleichen Rechte haben. Im Deutschlandfunk wurde er dazu gestern Morgen interviewt.

Für die Durchsetzung der Gleichbehandlung haben wir ein Antidiskriminierungsgesetz. Das kann ich als Individuum in Anspruch nehmen, wenn ich den begründeten Eindruck habe, dass ich widerrechtlich benachteiligt worden bin. Ich muss diese Benachteiligung allerdings wasserdicht nachweisen. Gefühlte, vermutete oder unterstellte Diskriminierung hat vor Gericht kein Gewicht. Es gibt sicher Fälle, in denen eine Benachteiligung nicht nur naheliegt, sondern faktisch besteht, obwohl sie sich nicht nachweisen lässt. Die Regel dürfte das jedoch nicht sein. Durch die Welt zu gehen und zu behaupten, ich würde aufgrund meiner Herkunft, meines Geschlechts, meiner Religion, meiner sexuellen Orientierung oder meiner Schwerbehinderung in der Bundesrepublik diskriminiert, ohne dass ich diese Benachteiligung nachgewiesen habe, geht nicht. Punkt.

Mit seiner Aussage, dass es sich bei identitätspolitischen Schaugefechten um Verteilungskämpfe handelt, hat Wolfgang Thierse Recht. Seit über zwanzig Jahren haben wir es mit einem Strukturwandel und immer weiter schrumpfenden Ressourcen in der Arbeitswelt zu tun. Menschen „mit Migrationshintergrund“ oder schwarze Deutsche kommen deshalb nicht in jedem Fall wegen Diskriminierung nicht oder schlechter voran, sondern weil es für sehr viele Menschen hierzulande schwieriger geworden ist, ein ihren Qualifikationen gemäßes Auskommen, eine bezahlbare Wohnung oder einen halbwegs sicheren Arbeitsplatz  zu finden. Wir haben seit langem ein hochqualifiziertes Prekariat im Land. Mit und ohne Migrationshintergrund. Werden diese Verteilungskämpfe noch zusätzlich durch Identitätspolitik verschärft, schlittern wir in eine überflüssige, aber hochgefährliche Spaltung der Gesellschaft. Arthur M. Schlesingers Buch „Die Spaltung Amerikas“ (1991) verdeutlicht recht gut, wohin Identitätspolitik führt, und ist seit kurzem auch auf Deutsch erhältlich.

Linker Ethnozentrismus ist anders als der rechte Ethnopluralismus nach Innen und nicht nach Außen gerichtet, gefährdet aber unsere Demokratie nicht weniger, ganz einfach weil anders als im Grundgesetz vorgesehen, die Herkunft eines Menschen entscheidend sein soll, in diesem Fall die ethnische und nicht wie in der DDR die soziale. Das ist nicht nur grundgesetzwidrig, das ist absurd und wird nicht zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen, sondern zu noch aggressiveren an überholten Kategorien wie „Rasse“ oder „Ethnie“orientierten Kämpfen mit Unterstellungen, Beschuldigungen, üblen Nachreden, Tricks (damit ganz sicher ein Mann die Stelle bekam, platzierte man in der Vergangenheit manchmal einfach die weniger leistungsstarke Frau neben ihn und warf die in diesem Fall geeignetere Frau schon im Vorfeld aus dem Rennen; all das lässt sich in allen Varianten und mit sämtlichen Kategorien durchspielen, wenn wir beginnen, vom Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung ohne Ansehen der Person abzusehen und weder benachteiligen noch bevorzugen). Justitia ist nicht grundlos blind.

Ein Beispiel inakzeptabler Unterstellung folgte gestern dem Interview mit Wolfgang Thierse auf den Fuß, als sich eine Redakteurin in einem der abendlichen Kommentare in Rage redete, obwohl sie sicher fest daran glaubt, dass sie lediglich eine „Erwiderung“ formuliert hat. Das ist dieser Kommentar aber nicht gewesen, weil er sich überhaupt nicht auf das bezog, was Thierse gesagt hatte, falsche Fakten präsentierte und auch insgesamt eher eine monologische Bekenntnisideologie darstellte. Erstens waren  die rassistischen Minstrel-Shows, auf die sich das Bläckfacing des Kommentars bezog, keine deutsche, schon gar nicht eine bundesrepublikanische Tradition – esgab in Deutschland andere kolonialrassistische Scheußlichkeiten – und gar nicht Gegenstand   von Thierses Wortmeldung. Thierse will nicht über Blackfacing der Minstrel-Shows diskutieren, sondern über das einer „Othello“-Inszenierung oder das eines Sketches wie den von Thomas Schmid hier beschriebenen https://www.welt.de/kultur/plus214337786/Vertreter-einer-Politik-der-Feindschaft-Ueber-Achille-Mbembe.html. Zweitens ist es falsch, dass weiße Menschen in Europa schwarze Menschen „dominieren“ = beherrschen. Weiße sind in Europa in der Mehrheit so wie Schwarze das in Subsahara-Afrika sind. Aus diesem rein numerischen Verhältnis ergibt sich kein Herrschaftsverhältnis (der Adel war in Europa IMMER in der Minderheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, aber trotzdem einige Jahrhunderte lang herrschend). Drittens entsprang das im Kommentar Gesagte einer Ideologie, das heißt: keiner Beschäftigung mit der Realität, war deshalb weltfremd, abgehoben, selbstgefällig und seinerseits rassistisch. Anstatt sich mit dem Für und wider des von Wolfgang Thierse Gesagten auseinanderzusetzen, erzählt uns die Kommentatorin, was und wer Thierse (und sie selber) in ihren Augen ist und bestätigte damit die Stichhaltigkeit von Thierses Kritik. Thierse hatte moniert, dass es aufs Argument ankommt und nicht darauf, wer es vorbringt. Eigentor, lieber Deutschlandfunk!

Nachtrag der Verfasserin: Der Sketsch, den Thomas Schmid in seinem Beitrag zu Achille Mbembe anführt, würde ohne einen dunkel geschminkten, „weißen“ Schauspieler überhaupt nicht funktionieren: Ein „Weißer“ belehrt einen „Weißen“ über Vorstellungen über „Schwarze“. Das ist natürlich nicht authentisch. Wie alle Kunst.