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Weg mit Kant, weg mit der Aufklärung? Bloß nicht!

Häufiger hört man seit einigen Jahren und speziell im Deutschlandfunk im vergangenen Jahr, dass die Stellung Immanuel Kants in der Philosophiegeschichte und die europäische Aufklärung ganz allgemein grundsätzlich revisonsbedürftige Angelegenheiten seien. Selten gewinnt man dabei den Eindruck, dass die bilderstürmerischen Wortführer, die beide von den universitären Seminarplänen fegen möchten, wissen, worüber sie reden. Leicht lässt sich einiges klarstellen, anderes einwenden.
Erstens ist Immanuel Kant als Verfasser der drei Kritiken, die der reinen Vernunft (Erkenntnistheorie oder Was können wir wissen?), die der praktischen Vernunft (Moralphilosophie oder Wie sollen wir handeln?) und die der Urteilskraft (Ästhetik oder Wie funktioniert unsere Fantasie?) in die europäische Philosophiegeschichte eingegangen, nicht aber als Anthropologe und schon gar nicht als Rassentheoretiker. Schüler und Studenten beschäftigen sich heute mit Kants Beantwortung der Frage, was Aufklärung sei. Seine Antwort war denkbar einfach, schlüssig und klar: Man solle sich seines eigenen Verstandes bedienen, ganz gleich, was wer redet, ganz gleich, was wer in einem Buch schreibt. Kurzum: Er empfahl selbstständiges Denken. Kants anthropologische Schriften, die zurecht als rassistisch kritisiert werden, spielten in der Philosophiegeschichte bis vor kurzem keine Rolle, fallen hinter seine eigene aufklärerische Maxime und seine philosophischen Steckenpferde weit zurück. Mehr noch, Kant konterkarierte in ihr sein gesamtes philosophisches Programm. Außer einem kleinen überschaubaren Kreis dürfte Kants anthropologische Fehlleistung kaum wem bekannt gewesen sein. Massenhaft rezipiert wurde sie jedenfalls nicht. Ich plädiere dafür, auch sie an Universitäten zu diskutieren und zu zeigen, dass und wie sie Kants Denken und seinen eigenen Prinzipien zuwiderlaufen. Um das leisten zu können, sind das Lesen und Verstehen seiner Kritiken eine unerlässliche Voraussetzung. Kants Sprache ist sperrig. Schon sich in seiner Syntax zurechtzufinden, Haupt- und Nebensätze in eine Ordnung zu bringen, Subjekt und Objekt auszumachen und am Ende noch in eigenen Worten den Aussagegehalt der gewundenen Periode wiedergeben zu können, dürfte ebenso schweißtreibend sein wie eine gute Schule im Erfassen von Argumenten, die diesen Namen auch verdienen. Wenn Achille Mbembe eine seiner Schriften in Anlehnung an Kant „Kritik der schwarzen Vernunft“ nennt, wird deutlich, dass er den Königsberger Klops kaum je angerührt, geschweige denn verdaut haben kann. Denn selbst Kants Anthropologie kennt keine haut- und haarfarbenabhängige Vernunft.

Zweitens war die europäische Aufklärung, deren Kern nie in einer Rassenlehre bestand, von Anfang an ein viel debattiertes und kontroverses Unterfangen. Im akademischen Streit bestand ja die Agenda. Weil Wissenschaft Relativierungswissen ist, gibt es in ihr keine absolute Wahrheit, sondern immer nur die Suche nach ihr. Sich auf die ausgewiesene Kant-Liebhaberin Hannah Arendt zu berufen, um Kant und die europäische Aufklärung abzuservieren, sprich: abräumen zu lassen, dürfte schon deshalb ein missratenes Gesellenstück werden, über das wir in naher Zukunft hoffentlich „nice try“ und „mission imposible“ sagen. Auch die Schoa lässt sich mit Arendt nicht relativieren, so oft und gern das Postkolonialisten auch versuchen. Arendts Totalitarismusstudie aus den 1950er Jahren hatte weder den europäischen Judenhass als treibendes Moment der Shoa erkannt noch ihr Ausmaß, ihre Genese und ihren Charakter qualitativ richtig eingeschätzt. Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ bleiben eine wichtige Studie über politische Herrschaftsformen, bieten aber keine halt- und belastbaren Thesen und Erklärungen zum modernen Judenhass, dessen Kern gerade nicht in einem allgemeinen Rassismus bestand, wie sie fälschlicherweise annahm. Arendt kannte sich in der Kolonialgeschichte schlecht aus, war keine Historikerin und schon gar keine Holocaustforscherin. Um sich über die Shoa wissenschaftlich schlau zu machen, muss man die Bücher von Raul Hilberg, Jehuda Bauer und Saul Friedländer lesen. Wie Immanuel Kant, so war auch Hannah Arendt in ihren Urteilen fehlbar und Irrtümern erlegen. Zumal dann, wenn sie wie Kant auf Gebieten wilderte, in denen sie sich weniger gut auskannte. Den Judenhass als pathische, das heißt: wahnhafte Projektion, die das Jüdische als das absolut Böse und darum Vernichtungswürdige fantasiert, haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1947) adäquat erfasst. In einem Befund aber kommen Arendt und die beiden Frankfurter Philosophen zu einem übereinstimmenden Befund: Sie konstatieren im Selbstverlust des modernen  Individuums den Einfluss kollektiver Ideologien wie Faschismus und – das macht nur Arendt – Kommunismus. Die europäische Aufklärung aber hat sich, weil darin von Beginn an ihre Dynamik bestand und besteht, über sich selber aufgeklärt. Durchaus nicht erst mit Adorno und Horkheimer, denn ihre „Dialektik“ behandelt von den europäischen Aufklärern alleine Immanuel Kant, sonst Homers „Odyssee“, den Marquis de Sade und Friedrich Nietzsche. Adornos und Horkheimers Wendung gegen die Aufklärung wiederholt romantische Reflexe der Gegenaufklärung von Novalis bis zu den Schlegels, übersieht  dabei aber, dass es nicht auf die Vernunft als solche ankommt, sondern auf ihren situationsgebundenen Gebrauch. Ihre ahistorische Wendung gegen die vermeintliche Herrschaft einer abendländischen Vernunft, die an bestimmten Punkten in Mythologie umschlägt – ein Nietzscheanischer Gedanke – und die es faktisch nirgends gegeben hat, lief deshalb trotz brillanter Einsichten ihrer Verfasser ins Leere. Als eine halt- und belastbare Analyse der westlichen Moderne kann die „Dialektik“ schon aufgrund ihrer Ausblendung historischer Fakten – die „Odyssee“ ist ein literarisches Epos , de Sades Schriften fantastische Erzählungen, Nietzsches Schriften eine Mischung aus Philosophie und Literatur – nicht sein. Dazu fehlt es ihr an Empirie. Hinzu kommen die willkürlichen Verknüpfungen kontextgebundener philosophischer Gedanken. Die „Dialektik“ kann noch nicht eimmal Auskunft über einen sinnvollen oder sinnlosen Gebrauch von Vernunft und Verstand geben, in ihren eigenen Worten: von Rationalität. Selbst als geschichtsphilosophische, geschweige denn philosophiehistorische Arbeit ist die „Dialektik“ kaum brauchbar. Als Geschichtsabhandlung sowieso nicht. Realiter kamen Nationalsozialismus und Faschismus nicht mit, sondern gegen die westliche Moderne in Europa an die Macht. Erst die Zerstörung der liberalen Demokratien und das ist ein anderer Begriff für den Westen im Plural konnten die Nationalsozialisten, Faschisten und ihre übergroße Zahl an Mitläufern und Opportunisten einen Weltkrieg anzetteln und die Vernichtung der europäischen Juden ins Werk setzen. Die philosophischen Fragmente Adornos und Horkheimers, innerhalb von vier, fünf Jahren aus gemeinsamen Gesprächen im Exil entstanden und noch ganz den unter europäischen Intellektuellen weit verbreiteten diffusen antikapitalistischen Denkstilen der zwanziger und dreißiger Jahre verhaftet, konnten eine Analyse dieser Vorgänge gar nicht leisten. Dass der Kampf der Nationalsozialisten und Faschisten vor allem dem modernen Westen galt und sie dessen Verkörperung im Judentum erblickten, ist ein historisches Faktum, das Adorno und Horkheimer allein deshalb übersahen, weil ihre theoretischen Grundlagen, allen voran der Marxismus, es ihnen nicht erlaubte, diese Tatsache auch nur zipfelweise zu erfassen. Die „Dialektik“ beweist am Ende nur, was man auch ohne sie wissen kann: dass jede Vernunftwahrheit von Voraussetzungen abhängig ist, die sie nicht zugleich reflektieren kann, und jede Fantasie sich rationaler Überlegungen bedient, aus der sie ihre zeitweilige Überzeugungskraft bezieht. Von Adorno und Horkheimer kann man viel über die Besonderheit der Judenfeindschaft lernen, die man bei nahezu allen Vertretern des deutschen Idealismus von Fichte über Schelling bis zu Hegel antrifft, schließlich bei den Frühsozialisten und bei Karl Marx. Auch über den anhaltenden Vernichtungswunsch des gegen Juden gerichteten Hasses, den auch ein Achille Mbembe in seinem der BDS-Kampagne gespendeten Pamphlet gegen den Staat Israel noch überdeutlich ausformuliert, weil er den Israelis in seiner Projektion genau das Schicksal zugedenkt, das er ihnen als planvolle Auslöschung von „Palästinensern“ andichtet. Und genau deshalb soll Mbembe seine Theorien zukünftig nicht mehr staatlich finanziert in der Bundesrepublik verbreiten dürfen. Finden sich private Sponsoren, finanzieren die Kulturfunktionäre seine Vorträge von ihrem üppigen staatlichen Gehältern oder gesammelten Spenden und drucken privatwirtschaftliche Verlage Mbembes antikapitalistische Tiraden (https://schmid.welt.de/2020/08/28/politik-der-feindschaft-der-historiker-achille-mbembe-ist-in-deutschland-preisgekroent-hat-denn-niemand-sein-perfides-werk-gelesen/) ohne staatliche Zuschüsse, kann er Star des „postmodernen Wanderzirkus“ (Ruhrbarone) in der Bundesrepublik bleiben.

Zurück zum Ausgangspunkt: Es fiel mir in diesem Jahr immer wieder auf, dass manche Moderatoren im Deutschlandfunk ihre Interviewpartner gern zur Bestätigung ihrer diffusen Glaubensgrundsätze heranziehen. Denn weder widersprechen sie den offenkundig unsinnigen, weil erkennbar kontrafaktischen Aussagen der Interviewten noch scheinen sie in der Lage zu sein, das Niveau von ostdeutschen FDJ-Studienjahren und Diskussionen in den K-Gruppen der 68er durch kritische Interventionen hinter sich zu lassen. Vom Deutschlandfunk wurden vor ein paar Tagen zwei Interviews aus den „Kulturfragen“ wiederholt: Das Gespräch von Annette Riedel mit Nikita Dhawan zum Beispiel erhob Immanuel Kant zu den Gründungsvätern der Rasselehre. Das ist, wie oben dargelegt, Unfug. Aber Frau Riedel fragte nicht nach, widersprach nicht – vermutlich, weil sie sich mit Kant so wenig auskennt wie ihre Gesprächspartnerin, die allerdings Lehrstuhlinhaberin an der Universität Gießen ist und von der man erwarten können sollte, dass sie anstatt Unsinn über Kant zu reden, Fragen zur wissenschaftlichen Erforschung des deutschen Kolonialismus beantworten kann. Mindestens hätte Frau Riedel darauf pochen können, dass Frau Dhawan ihre drei Bezüge Arendt, Adorno und Horkheimer erklärt, da sie diese drei Denker immerhin vollmundig als ihre Referenzen anführt und folglich ihre greifbaren Irrtümer benennen kann. Oder war es nur das übliche Namedropping zur öffentlichen Selbstvermarktung? Leider können sie sicher sein, dass es die Moderatoren nicht merken. Andernfalls würden sie einhaken und zumindest wissen wollen, worin denn die aufgeklärte Aufklärung ihr wichtigstes Pfund hat. Wenigstens könnten sie die Interviewten bitten, ihre „Gedanken“in wenigen Worten darzulegen. Auch wüsste man gern, worin der angeblich andauernde Kolonialismus in den Köpfen der Europäer und Amerikaner besteht und wieso er trotz der faktischen Beteiligung von Schwarzafrikanern am Sklavenhandel, trotz des arabischen, osmanischen und russischen Imperialismus und Kolonialismus nur in „weißen“ westlichen Köpfen seinen Fortbestand hat, nicht aber in „nichtweißen“ und „nichtwestlichen“ und wieso die Referenzen postkolonialer Studien gerade „weiße“ Köpfe wie Carl Schmitt, Martin Heidegger, Michel Foucault, Giorgio Agamben, Judith Butler usw. sind. Die Antwort könnte darin liegen, dass all diese Köpfe antiwestliche Kämpfe gegen die liberale Demokratie geführt haben und, sofern sie noch am Leben sind, bis heute führen, sei es von rechts, sei es von links. Denn der Postkolonialismus hat wenig mit faktisch fundiertem Wissen und elaborierten Theorien zu tun, dafür umso mehr mit einer intellektuell recht schlichten Ideologie, die die Welt schablonenhaft in Privilegiert und Unterprivilegiert, in Unterdrücker und Unterdrückte, in Herrscher und Beherrschte usw. einteilt, wobei Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht darüber entscheiden, auf welcher der beiden Seiten man sich dann jeweils konkret wiederfinden darf. Das Kulturgespräch von Bonaventure Ndikung und Christiane Habermalz ist dafür ein treffender Beleg. Schon im Einstieg der Moderatorin finden sich eine Reihe von falschen Tatsachenbehauptungen wie jener, nach welcher die Bundesrepublik jahrzehntelang mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und vor allem der Shoa beschäftigt gewesen wäre und deshalb die Kolonialverbrechen in den Hintergrund geraten seien. Eine Holocaust-Gedenkkultur ist in der Bundesrepublik erst seit Mitte der 1990er Jahre etabliert. Vorher bestimmte der 1947 begonnene Kalte Krieg und damit die Blockkonfrontation weite Teile der Welt, Europa nicht weniger als Afrika, Asien und Amerika. Die Handvoll Wissenschaftler und Künstler, die sich mit der Shoa befassten, waren, wenn auch nicht immer, so doch oft jüdischer Herkunft, von Polijakov über Hilberg und Claude Lanzmann bis hin zu Saul Friedländer oder Deborah Lipstadt, welcher von einem Holocaustleugner wie David Irving ein jahrelanger Prozess aufgenötigt worden war. In ihren Fachbereichen waren sie nicht selten Außenseiter. Zeitgleich mit der langsamen Aufarbeitung der Shoa begann im vereinten Deutschland auch die des deutschen Kolonialismus in der Wissenschaft und in der Bildungsarbeit. Anders als in anderen westeuropäischen Staaten – die Osteuropäer waren keine Kolonialmächte – war der Kolonialismus in Deutschland eine Angelegenheit des wilhelminischen Kaiserreichs seit den 1880er Jahren und fand sein Ende im Jahr 1918. Es war deshalb nicht die Aufarbeitung der Shoa – die Prozesse gegen NS-Täter vor west- und ostdeutschen Gerichten waren an zwei Händen abzählbar -, die irgendwen in Deutschland davon abgehalten hätte, sich den Kolonialverbrechen  zuzuwenden, wie die Moderatorin Christiane Habermalz faktenwidrig und in der Absicht behauptet, das eine gegen das andere Verbrechen auszuspielen. Beide Verbrechen waren Massenmorde und als solche Genozide, unterscheiden sich aber erheblich voneinander. Der Genozid an den Herero und Nama war beispielsweise keine von der deutschen Kolonialverwaltung geplante Vernichtungsaktion, sondern ein von den deutschen Schutztruppen , dem Militär, begangener und von General von Trotha befohlener Massenmord. Dies gegen den erklärten Willen und Widerstand der Kolonialverwaltung unter Theodor Leutwein. Viel zu spät annullierte Wilhelm II., der dem Schutztruppengeneral anfangs stützte, von Trothas Vernichtungsbefehl. Die deutschen Sozialdemokraten hatten im Reichstag nicht nur gegen die Bewilligung der Gelder für den Kolonialfeldzug protestiert, sondern waren grundsätzlich Gegner kolonialer Unternehmungen gleich welcher Art. Vergleichbare offene und grundsätzliche Einsprüche und Widerstände gegen die „Judenpolitik“ hat es in der deutschen Bevölkerung, in der zivilen Beamtenschaft und beim Militär zwischen 1933 und 1945 nicht gegeben, ganz abgesehen davon, dass Juden weder mit der Regierung oder Deutschland im Konflikt lagen noch jemals eine Kriegspartei waren. All das und nicht Rassismus gegen schwarze Menschen ließen ältere, mit der Materie bestens vertraute Historiker wie Horst Gründer zögern den Genozid an den Herero und Nama auch als solchen zu bezeichnen, ohne dass sie den kolonialen Massenmord der deutschen Schutztruppen an den Herero und Nama jemals geleugnet hätten. Dass Christiane Habermalz profunde Kenntnisse über die Shoa und die deutsche Kolonialgeschichte einschließlich beider Aufarbeitung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft besitzt, kann man angesichts ihrer Anmoderation bezweifeln. Und so wie diese mißglückte Anmoderation entwickelt sich dann auch das Gespräch mit Bonaventure Ndikung, der zwar wie Achille Mbembe gebürtiger Kameruner, aber weder Historiker noch anderweitig mit der in Rede stehenden Fragestellung vertraut zu sein scheint, sondern ein schwarzer Künstler und Aktivist in Deutschland ist. Nach dem gleichen Muster könnte man Erna Mischke zu den Arbeiter- und Gewerkschaftskämpfen im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik befragen und sie bitten, die heutige Hartz-IV-Regelung dazu in Bezug zu setzen. Egal, ob sie mit der Materie vertraut ist, sie ist Arbeiterin, vielleicht sogar politisch engagiert, und schon allein deshalb hat ihr Wort Gewicht. Ndikung wolle Terror gegen Juden und Terror gegen Herero und Nama nicht vergleichen, sagt er. Es sei unmöglich zu bestimmen, ob das eine oder das andere schlimmer oder besser gewesen sei  – als ob diese rein moralische Wertung jemals Kern einer Debatte in Deutschland gewesen wäre. Ndikung ebnet die qualitativen Unterschiede zwischen beiden Völkermorden ein, er nivelliert und relativiert. Und dies mit Sicherheit ohne tiefergehende Kenntnisse der Shoa. Ob er die Debatte um Mbembe überhaupt in ihren inhaltlichen Aspekten verfolgt hat, ist zweifelhaft, auch wenn er genau weiß, dass sie „seicht“ und „niveaulos“, „rassistisch“ und gegen Achille Mbembe als Schwarzafrikaner gerichtet gewesen ist. Moderatorin Habermalz interveniert nicht, fragt nicht nach, lässt sich nicht genauer erklären, worin der Rassismus gegen Mbembe bestanden haben soll. Auch dass Mbembe ein intellektuelles Schwergewicht von internationalem Rang und Ruf ist, steht für Ndikung fest. ‚Perspektivismus‘ könnte man meinen, denn hierzulande stellt schließlich für die einen Erwin Strittmatters Werk den Gipfel der Romankunst im 20. Jahrhundert dar und für wieder andere ist Mario Barth ein bekannter Philosoph. Ndikung versteigt sich nach der richtigen Feststellung, dass die meisten schwarzafrikanischen Gesellschaften orale Kulturen waren, zu der Behauptung, dass die Zeichenwelt der Körperbemalung und der Textilien, die den Stämmen zur Kommunikation dienten schließlich so etwas wie eine Schriftkultur gewesen sei. Da hält man dann doch den Atem an, denn was Ndikung da beschreibt ist zwar ein Zeichensystem, aber keine Schrift, die von ihrem Urheber ablösbar und in andere Zeichensysteme übersetzbar ist, fixiert und verbreitet werden kann und noch nach Jahrtausenden dechiffrierbar, les- und verstehbar ist wie die Angaben auf Ton- und Steintafeln, die Schriftrollen und andere Handschriften gleich welcher Epochen, Sprachen und Kulturen. Die Schrift ist ein abstraktes Zeichensystem und deshalb halt- und in Zahlen und Grafiken übersetzbar. Das und nicht die Hautfarbe waren die Gründe für Handel, Wandel und Geschichte, für Mobilität und überregionalen Austausch. Generationen von schwarzafrikanischen Wissenschaftlern, Politikern und Künstlern ist das bewusst, weshalb sie nicht wie Frau Habermalz, Herr Mbembe oder Herr Ndikung „Weißen“ die Verantwortung für den Zustand ihrer gegenwärtigen Gesellschaften zuschieben und auch nicht wie Frau Wiedemann eine „weiße Dominanz“ fantasieren und an ihr Ende kommen sehen. Die deutsche Kolonialgeschichte kann nur als faktische aufgearbeitet werden. Sicher nicht von antiimperialistischen und antikapitalistischen Ideologen, sondern von „schwarzen“ und „weißen“, erwachsen gewordenen Menschen, die in der liberalen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft keine Frage von Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Geschlecht sehen, sondern eine politische Ordnung, die Menschen zu auskömmlichen Lebensbedingungen und immer mehr gesellschaftlichem Wohlstand verhelfen.